Der Liedschatten (111): Überholen ohne einzuholen

George Harrison: „My Sweet Lord“, Januar – April 1971

Was tun, um über die Trennung der Beatles hinwegzukommen? Sich sagen, dass uns durch sie wenigstens mittelmäßige Alben der bis jetzt größten Popgruppe der Welt erspart blieben?

Ach, nein, das wäre nicht mehr als ein „Es könnte schlimmer sein …“ und obendrein eine recht haltlose Behauptung. Würde denn nicht ein einziges hervorragendes Album der Beatles zehn mittelmäßige und sogar das eine oder andere schlechte aufwiegen?

Warum wollen wir uns aber mit Spekulationen aufhalten, gibt es doch einen wirklichen Grund, ihr Ende gutzuheißen: George Harrison konnte nach der Auflösung der Beatles seine durch Lennon und McCartney sträflich missachteten Songs aufnehmen und sie im November 1970 gesammelt als Dreifach-LP „All Things Must Pass“ veröffentlichen.

Selbst unter Beachtung von Großtaten wie Lennons „John Lennon / Plastic Ono Band“ und McCartneys „Ram“ ist „All Things Must Pass“ trotz einiger darauf veröffentlichter Jams das beste Soloalbum eines Beatles. Sein Material stammt größtenteils aus der Phase ihres Auseinanderdriftens ab 1968 und kann sich mit den späteren, durch alle vier eingespielten Kompositionen Harrisons (zum Beispiel „Here Comes The Sun“, „Old Brown Shoe“ oder „Something“) nicht einfach nur messen. Zu sagen, es würde sie übertreffen, wäre durchaus zulässig, wenn auch nicht ganz korrekt, Harrisons Leistung lässt sich besser als „Überholen ohne einzuholen“ beschreiben. Er machte nicht einfach ebenso gute Musik wie die Beatles, sondern hatte sich vollkommen von ihnen emanzipiert. Bemerkenswerter als die Vergangenheit war nun seine Slidegitarre, eingebettet in einen übergroßen, gewaltigen Sound von einem existenziellen Pathos. Die Beatles benutzten orchestrale Arrangements als Stilmittel und Effekte, Harrison aber machte den Wall of Sound zum Hintergrund seiner Stücke, deren Melodien sich umso leuchtender von ihm abhoben.

Setzt man Stille mit „Innerlichkeit“ oder gar „Spiritualität“ gleich, hatte sich das Klischee vom „stillen Beatle“ Harrison hier bewahrheitet. Die Texte seiner Songs scheinen wie auch bei Lennon Folge einer tiefgehenden Beschäftigung mit existenziellen Fragen nach Tod und Vergänglichkeit zu sein, nur kommt er zu anderen Ergebnissen. Während Lennon in „God“ jeglichem Glauben außer dem an sich selbst und seine Liebe zu Yoko Ono abschwört, sehnt sich George Harrison in „My Sweet Lord“ nach einem Treffen mit einem göttlichen Wesen und bezieht dabei verschiedene Glaubenssysteme mit ein.

Text und Musik bedürfen keiner weiteren Erläuterung, „My Sweet Lord“ ist ein simpler Gospel. Ein in konfessionellen Fragen nicht allzu strenger Mensch sehnt sich recht ungeduldig nach der Nähe zum Gegenstand seiner Verehrung. Dieser wird mit Formeln aus dem jüdischen und christlichen Glauben („Hallelujah“), der Krishna Bewegung („Hare Krishna“) und dem Hinduismus („Gurur Brahma, gurur Vishnu(…)“ vage gehalten, klar ist einzig, dass es sich um einen „Lord“ handelt. Während Harrison von einigen wenigen, gänzlich wirren Christen die Absicht unterstellt wird, Gläubige damit zur Verehrung Satans verleiten zu wollen, dürfte sich für andere darin ein Verlangen nach Gottesschau und Erfüllung ausdrücken, in dem sich zumindest religiöse Menschen unabhängig vom Bekenntnis ähnlich und womöglich auch einig sind. Da hier nicht so getan wird, als müsse jeder irgendeinem Glauben anhängen, kann man das als ungläubiger Mensch beiläufig zur Kenntnis nehmen oder uninteressant finden, so, wie man auch Lennons Lieder an Yoko Ono hören kann, ohne seine Frau zu lieben.

harrison_lordOb mit oder ohne Liebe zu wem auch immer, das Wechselspiel aus Leadgesang und Backingvocals bleibt hängen. Auch Harrison dürfte es viele Jahre vor Veröffentlichung seiner Single so gegangen sein, entspricht der Aufbau des Songs doch stark der Single „He’s So Fine“ von der Girlgroup The Chiffons aus dem Jahre 1962, immerhin ein Nummer-Eins-Hit in den amerikanischen Billboard-Charts. Da die Beatles aus ihrer Liebe zu Girlgroups nie einen Hehl machten und die Melodieführung sehr ähnlich ist, wurde Harrison verklagt. Auf ein langes (und recht interessantes) Verfahren folgte die Verurteilung wegen eines unbewussten Plagiats, womit er sich abfinden musste, aber nicht zufrieden gab. Denn auch wenn er ein gläubig Mensch war, allzu duldsam schien er nicht gewesen zu sein.

Albern, aber okay, nicht gut, nicht schlecht, der Text sagt es selbst.

Wenn schon, denn schon: George Harrison gibt sich der Piraterie ganz hin.

All das ist aber nicht so bemerkenswert wie „All Things Must Pass“, weshalb hier einmal auf einige seiner Songs eingegangen werden soll.

I’d Have You Anytime“: Harrison schrieb den Song 1968 gemeinsam mit Bob Dylan, die famose Melodiegitarre stammt von Eric Clapton. Allerdings müssen keine Autoritäten (wobei Clapton nicht nur aufgrund seines Rassismus keinesfalls als eine solche gelten sollte) bemüht werden, um den Song hervorzuheben. Die wunderbar verhaltene, doch höchst intensive Ballade trifft das Wesen der Liebe mit den famosen Zeilen „All I have is yours / all you see is mine“ besser als jede große Metapher.

My Sweet Lord“: Harrisons größter Hit, auf den wir weiter oben bereits eingegangen sind. Beachtlich ist hier vor allem die keinesfalls gewaltige, sondern warme Opulenz des Arrangements. Überhaupt ist „All Things Must Pass“ ein unwahrscheinlich dunkles, warmes Album.

Isn’t It a Pity“: Man muss ihm etwas Zeit geben, auf jeden Fall mehr als seine über sieben Minuten Länge, dann wird früher oder später die Gänsehaut kommen. Das hier ist nicht einfach Ausdruck von Weltschmerz, es ist eine Wahrheit.

„Isn’t it a pity, isn’t it a shame

How we break each other’s hearts, and cause each other pain

How we take each other’s love without thinking any more

Forgetting to give back, now isn’t it a pity.“

„Isn’t It a Pity“ lässt sich ohne weiteres als zentrales Stück des Albums ansehen, nicht nur thematisch, sondern auch musikalisch. Nirgendwo sonst türmt sich Spectors Wall of Sound so hoch auf. Selten ergab ein Orchester so viel Sinn wie hier und vor allem dürfte es kein weiteres Stück geben, das nicht einfach nur wie ein gewaltiger Berg aufragt, sondern einen Platz auf seiner Spitze anbietet, von dem aus man einen blutrot getönten Horizont sehen kann.

What is Life“: Ein One-Hit-Wonder würde aufgrund eines solchen Stückes als verkanntes Genie gelten, bei Harrison ist es einfach ein Popsong. Wer das Lied nicht zu oft im Radio hören musste, wird dem federnden Beat und fröhlich schwingenden Streicher mit Sicherheit verfallen. Poppiger wird Harrison auf „All Things Must Pass“ nie werden.

If Not For You“: Deutlich hörbar eine Komposition Bob Dylans, die erstmalig 1970 auf dessen Album „New Morning“ veröffentlicht wurde. Harrison spielt hier eine sehr respektvolle, melodieselige Variante des recht – ja, tatsächlich und bei allem Widerspruch – gefühlvollen und coolen Liebesliedes.

Let It Down“: Hier ist Harrison heavy, was bei ihm in etwa so wie „Live And Let Die“ von McCartney ohne Tand klingt. Auch der Text ist anders als dort keine Spielerei, sondern latent erotisch. In musikalischer Hinsicht ist das Wechseln zwischen laut und leise sicherlich nicht originell, doch was schert das, wenn es so nur schamlos konsequent und gekonnt wie hier angewandtt wird?

Run Of The Mill“: Trompeten in der Popmusik, wer mag sie nicht? Oder anders gesagt: wer sie selbst hier nicht mag, verschmäht auch den Regenbogen nach einem Gewitter. Nun möchte ich aber keinen falschen Eindruck hervorrufen, immerhin handelt der Text ja von den Spannungen zwischen den Beatles während der „Get Back“-Sessions. Gedudelt wird hier nicht.

Beware Of Darkness“: Wie sich die Melodie hier windet, lässt sie beinahe die spirituellen Warnungen des Textes vergessen. Am Ende bleibt von ihnen nicht mehr als die Zeile des Titels übrig, was vollkommen ausreicht. Wir werden aufpassen.

Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let it Roll)“: Beinahe befürchtet man, das Lied würde von einer lauen Brise verweht werden. Im Gegensatz zu den meisten Songs des Albums wirkt es trotz all des Halls weniger ausproduziert. Würde mir einst jemand gesagt haben, das wäre ein sehr, sehr später Beatles-Song, ich hätte es allein aufgrund des Textes geglaubt.

All Things Must Pass“: Der Titeltrack. Hymnisch und trotz des traurigen (und wahren) Textes einladend. Wie das „pass“ gedehnt wird, ist schmerzlich und schön, mehr braucht es nicht, um eine tief empfundene Melancholie hervorzurufen. Warum die Beatles diesen Song nicht aufnehmen wollten, wissen nur sie. Verständliche Gründe werden es nicht sein.

Art Of Dying“: Dramatisch! Und auf eine altbackene Art auch noch hip, ja teils sogar funky. Es geht um Tod und Wiedergeburt, dennoch hat Harrison hier einen Fuß in einer Disco, die es damals noch nicht gab.

>Neben weiteren, nicht erwähnten Stücken finden sich auf der dritten LP namens „Apple Jam“ noch recht rockige Improvisationen, die – falls man etwas für solche übrig hat – sicher auch ihren Reiz haben. Mit denen müsst Ihr Euch aber, wie überhaupt mit dem Album, noch einmal selbst befassen.

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