Der Liedschatten (109)Ode an die Meute

Miguel Ríos: „Song of Joy“, Oktober – Dezember 1970
Seit für mich Langem versuche ich, einen Gedanken wie ‚Früher war alles besser.‘ gar nicht erst zu denken, was nicht funktionieren kann – muss man doch den nicht zu denkenden Gedanken erst einmal gedacht haben, um ihn nicht denken zu wollen.
Davon gänzlich unberührt möchte ich also nicht denken, es sei früher alles besser gewesen. Was sollte schon mein „früher“ sein? Die 1990er? War es (was ist eigentlich „es“? Cordjacken? Speiseeis? Wetter? Eben alles?) da besser?* Nein, es war mindestens ebenso schlimm. Warum aber scheinen manche Menschen von der Überlegenheit des Vergangenen überzeugt zu sein?
Vielleicht, weil es leider nicht üblich ist oder sogar ungebührlich erscheint, im Kapitalismus als dem vermeintlichen Ende der Geschichte Forderungen an die Zukunft zu stellen, weshalb man sie lieber an die Vergangenheit richtet. Außerdem ist es schmeichelhaft, war man selbst ja früher schon da, andere, eben die, die alles schlimmer machen, jedoch nicht.
Auch vor mittlerweile über 40 Jahren werden viele nicht anders empfunden haben, im Gegenteil. Immerhin entfremdete sich damals nicht nur die Jugend von der Generation ihrer Eltern, sondern nahm die Bedeutung der als „verdummend“ geltenden Massenmedien immer stärker zu. Salopp gesagt brummte die Kulturindustrie gewaltig, und wie das klang, gefiel wenigen sicher überhaupt nicht.
Was hat der eine Hit nur aus diesem Mann gemacht?
Es gefiel wenigen nicht, vielen aber sehr wohl. Und wie werden sich einige der wenigen darüber gegrämt haben, wie oft wird wohl der Bestand des Abendlandes in Gefahr gewesen sein, wenn die hehre Kultur für den Massengeschmack dergestalt verzuckert, ja verstümmelt wird! Und das alles dann obendrein zum 200. Geburtstag Beethovens, des übergroßen Komponisten von Werken, die gefälligst am Stück genossen werden sollten, als Partitur, in Konzerten, vielleicht noch als Hausmusik, gewiss aber nicht im Fernsehen und als Single.
Selbstverständlich veröffentlichte der Orchesterleiter Waldo de los Ríos seine Bearbeitung des letzten Satzes der 9. Sinfonie nicht zufällig anlässlich eines solchen Jubiläums, denn wenn einer der bekanntesten Komponisten der Welt gefeiert wird, wird seinem Werk Aufmerksamkeit geschenkt. Das tat ein jeder gemäß seiner Bildung und seines Vermögens, wobei viele Menschen mit weniger Geld eher selten Konzertsäle aufgesucht haben dürften. Sicher begründeten gerade diese den Erfolg des Stückes, wollten sie doch bestimmt nicht hintenanstehen, weil sie bereits in der Schule gelernt hatten, was für ein toller Künstler Beethoven gewesen ist – und die Tollen toll finden, das macht doch gerne, wer selbst einmal toll sein möchte. Begeisterung und Opportunismus sind nicht weit auseinander, ja werden erst in Verbindung so richtig schön. Oberflächlichkeit ziert die Geselligen, wer zu viel grübelt, gilt als Griesgram, wer es zu genau nimmt, als Besserwisser, gute Laune hat so einer bestimmt nicht. Und manche Menschen haben kaum mehr in ihrem Leben als hin und wieder gute Laune, vor allem keine tief empfundene Freude.
Eben diese aber ist der Kern von Schillers Gedicht „An die Freude“, bekannt eben vor allem durch Beethovens Vertonung. Hören wir es noch einmal der Abwechslung halber in Schuberts Bearbeitung.
Freude verleiht hier erst einmal die einigende, allen, ja selbst als „Wollust“ dem Wurm wie Cherub an des vermuteten Gottes Thron gegebene Möglichkeit zur Freude, dieser selbst, die Welt, die Liebe und Freundschaft unter freien Menschen und schließlich die göttliche Vergebung der Sünden laut christlichem Glauben. Es ergibt sich so eine Mischung aus Traditionellem, einem schwärmerischen Pantheismus und der Liebe zum Menschen als solchen. Das ist nett, das ist humanistisch.
Was aber singt Miguel Ríos? Nicht sehr viel anderes, nur wird hier aus Pathos Kitsch.
„Come sing a song of joy for peace shall come, my brother
Sing, sing a song of joy for men shall love each other.
That day will dawn just as sure as hearts that are pure,
Are hearts set free. No man must stand alone
With outstretched hand before him.
(…)
Come sing a song of joy of freedom tell the story.
Sing, sing a song of joy for mankind in his glory.
One mighty voice that will bring a sound
That will ring forevermore.
Then sing a song of joy for love and understanding.“
Ich wüsste nicht, wie genau man Schiller ins Englische übersetzen sollte, das hier aber ist mit Sicherheit keine dem Original entsprechende Nachdichtung, sondern platt und anbiedernd. Das erhabene Pathos der Vorlage geht ihr vollkommen ab, die hippieesken Plattitüden sind nur allzu irdisch. Da gibt es kein Elysium mehr, wird niemand einfach so umschlungen, nein, man soll ein Lied singen, um dabei zu sein, womit der Wurm schon einmal ausgeschlossen ist. Singen denn Würmer? Wenn sie es tun sollten, klingt es, wenn sie auch schleimig sein dürften, sicher nicht so schmierig.
Wenn wir gerade bei dürfen sind: Durfte Waldo de los Ríos sich der Melodie einfach so bedienen? Ja, er durfte. Er hätte es nicht tun sollen, aber er durfte, denn Beethovens Werk ist mittlerweile gemeinfrei, außerdem sind Bearbeitungen an sich gestattet, solange der Urheber sie nicht aus triftigen Gründen untersagt, was hier nicht möglich war. Für Waldo de los Ríos und den Interpreten Miguel Ríos war „Song Of Joy“ der größte Hit ihrer Karriere, auch wenn der Sänger bereits vorher in Spanien populär war und bis in die 1980er hinein blieb.
„Song Of Joy“ hingegen sollte als Kuriosum weitestgehend vergessen sein. Falls nicht, sei Euch die folgende Version von Beethovens Gassenhauer empfohlen, stellt sie doch die von Ríos in den Schatten, aus dem sie kam und in den sie wieder zurückkehren möge.
*Das Speiseeis aber war besser, die Softeis-Portionen enorm.
[…] zu schnell verliert man (oder verliere zumindest ich) angesichts von Schlagern wie neulich „A Song Of Joy“ von Miguel Rios oder Danyel Gerards „Butterfly“ aus den Augen, dass eine Single nicht trotz, […]