Der Liedschatten (107)Ein trauriger Nagel

Simon & Garfunkel: „El cóndor pasa (If I Could)“, Juni – August 1970
Wie egozentrisch ist es, „El Cóndor Pasa (If I Could)“ von Simon & Garfunkel als bekannt vorauszusetzen?
Wer wie ich Mitte der 1980er geboren wurde, hat 1970 um wenig mehr als 10 Jahre verpasst. Eine #1 aus diesem Jahr ist für ihn ein Lied aus der Jugend der eigenen Eltern, warum sollte er sie nicht kennen? Doch muss diese Kenntnis ja nicht allgemein sein, überhaupt bleibt abzuwarten, ob die Geschichte der Popmusik und ihrer Hits zur Allgemeinbildung gehören wird und wie viele Nachgeborene in zwanzig Jahren noch wissen, wer Simon & Garfunkel waren. Schlimm ist das nicht, wahrscheinlich überhöhen Liebhaber des Pop diesen und tun dabei unbewusst so, als sei er länger als ein paar Jahrzehnte relevant gewesen, ja, verwechseln generell Verbreitung mit Relevanz. Mal sehen, wer in fünfzig Jahren noch die Beatles hört, vielleicht nur… ach, nein, wir wollen nun nicht an Trauriges denken.
„El Cóndor Pasa (If I Could)“ ist ein Lied-Klischee-Mischling, ein wirklicher und regelrechter Schlager, Gassenhauer und als solcher bei übermäßigem Vorkommen dazu verdammt, zu nerven und unhübsch wie sonst nur das Konstrukt „Lied-Klischee-Mischling“ zu wirken. Doch nicht nur seine Bekanntheit könnte uns den Song unlieb machen, es ist vor allem der Ethnokitsch, der hier stört. Dieser hat eher mit seiner Rezeption als dem Lied an sich zu tun, mit Menschen, die hinter ihrer Vorstellung von Exotik Ursprünglichkeit und Unverdorbenheit zu finden glauben, nach denen sie sich in Romantik und Kulturpessimismus sehnen.
Wollten wir nicht aufhören, an Trauriges zu denken? Hören wir deshalb nun das gefällige „El cóndor pasa“, zuerst in der Version der Gruppe Los Incas, durch die Paul Simon auf das Lied aufmerksam wurde.
Und nun die Variante des Folk-Duos „El Cóndor Pasa (If I Could)“:
Verantwortlich für den, sagen wir, hohen Wiedererkennungswert ist laut Artikeln im Netz entweder die Verwendung desselben Basistracks oder ein Mitwirken von Los Incas bei den Aufnahmen. So oder so übernahm Simon deren Arrangement mit ihrem Einvernehmen und im Glauben, es handele sich dabei um Gemeingut. Er irrte sich jedoch, bereits 1933 hatte sich der Komponist Alomía Robles eine Bearbeitung schützen lassen. Simon wurde verklagt, man einigte sich aber außergerichtlich und erweiterte die Credits. Näheres, doch ebenfalls nichts Endgültiges zur Herkunft des Liedes findet sich bei Gerald Schwertberger, einem Herren, über dessen Profession ich mir nicht ganz im Klaren bin. Ich hoffe, nicht zu irren, wenn ich vermute, er sei Musiklehrer. Auf jeden Fall aber: ein „vielen Dank“ und der Link.
Genau genommen hat Simon also nicht mehr als Gesang und Text beigesteuert. In seiner Version handelt das Stück nun vom Wunsch nach Freiheit, der sich in den folgenden Vergleichen äußert:
„I’d rather be a sparrow than a snail.
(…)
I’d rather be a hammer than a nail.
(…)
I’d rather be a forest than a street.
(…)
I’d rather feel the earth beneath my feet
(…).
Away, I’d rather sail away
Like a swan that’s here and gone“
Mit seinen griffigen, schlichten Bildern ist „El Cóndor Pasa (If I Could)“ nicht einfach melancholisch, sondern sogar traurig, und an Trauriges wollen wir nun denken. Denn nicht nur kann eine Schnecke kein Spatz und eine Straße kein Wald sein, auch der Erzähler des Stückes wäre gern, was er nicht ist – nämlich frei. „If I could, I surely would“ vermag es aber nicht, ein Gefühl, das Simon im Jahr der Trennung von Art Garfunkel durchaus gehabt haben dürfte und das mit dem Flug eines Kondors wenig gemein hat.
„El Cóndor Pasa (If I Could)“ war die letzte reguläre Single des Duos aus seinem ebenfalls letzten Studioalbum „Bridge Over Troubled Water“ und repräsentiert wie auch der Titeltrack eher schlecht die Größe ihrer Musik, da sie zwar hin und wieder, aber nicht immer so pathetisch war. Gut, auch „Sound Of Silence“ ist vor allem in der späteren, elektrischen Version sehr theatralisch, weshalb die Folk-Variante des höchst braven, doch schönen Debütalbums „Wednesday Morning, 3 A.M.“ vorzuziehen ist, dessen Titeltrack wiederum als sehr, sehr schlichte Ballade eines naiven und reuigen, aufgrund eines Diebstahls seiner Liebe verlustig gegangenen Diebes bezaubert. Bei anderen Hits wie zum Beispiel „The Boxer“ mit seiner mächtigen Snare und „Mrs. Robinson“ gilt dann wieder: Man kennt sie viel zu gut, weshalb angebrachte Aufmerksamkeit zu rasch erlahmt.
Dennoch sollte jeder Haushalt über wenigstens eine Sammlung der Singles verfügen, „Homeward Bound“, „I Am A Rock“, „A Hazy Shade of Winter“, „Mrs. Robinson“ und auch „America“ sind famose Songs. Die Albumtracks stehen allerdings nicht hinter ihnen zurück, weshalb gleichermaßen alle LPs durchweg empfehlenswert sind – zumindest, wenn man Folk-Rock mag. Doch Obacht, die Betonung liegt dabei keineswegs auf „Rock“. Hart und lärmig waren die beiden nie, ebensowenig im eigentlich Sinne „Folk“, schon gar nicht so wie Dylan, der seine Tradition in starker persönlicher Prägung fortführte. Mit ihr hat Paul Simon als Songwriter weniger zu tun. Mag sein, dass er sich inspirieren ließ, ein richtiger Folkie war er nie. Seine Songs sind stets Popsongs. Von seinem Solowerk seien Euch noch die Alben „Paul Simon“ und „Still Crazy After All These Years“ besonders ans Herz gelegt, und „Graceland“ … nun, „Graceland“ ist, von „You Can Call Me Al“ einmal abgesehen, überschätzt.
Hier muss doch vor allem gesagt werden, dass der TEXT von Simon und Garfunkel zu EL CONDOR PASA überhaupt nicht
passt – er hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Original zu tun.