MerchandiseTotale Nite

Bevor „Children Of Desire“ in diversen Jahresbestenlisten innerhalb der Redaktion und folglich später auch in unserer Gesamtliste auftauchte, waren Merchandise für mich ein unbeschriebenes Blatt. Ihr erstes Album „(Strange Songs) In The Dark“ (die gesamte Diskographie ist für lau zu haben) war völlig an mir vorbei gelaufen, umso mehr begeisterte mich der Nachfolger, so dass es mir eine Freude war, die Kurzwürdigung für unsere Jahresendliste zu schreiben. Dabei war es noch nicht einmal so, dass „Children Of Desire“ mit einer Fülle an Innovation geglänzt hätte, vielmehr war es die Summe der einzelnen Teile, ihre Verbindung und ihre teilweise epische Ausformulierung, die hier den bleibenden Eindruck hinterließen.

Mit „Totale Nite“ legt die Band aus Tampa, Florida nun nach, fünf neue Songs zwischen drei und neuneinhalb Minuten hat die Band dafür eingespielt. Mit der Frage „Who Are You?“ wird das Quintett eröffnet und schnell wird klar, dass Merchandise an ihrem grundsätzlichem Sound vordergründig wenig verändert haben. „Who Are You?“ beginnt mit Live- oder Ü-Raum-Atmosphäre: eine kurze Rückkopplung, Räuspern, ein kurzer Pfiff als „call to arms“ und los geht’s. Aber nicht Hau-Ruck-Party (hätte auch keiner erwartet, oder?), sondern locker rein gleitend, so als müssten Carson Cox und David Vassalotti sich erst einmal in die richtige Stimmung bringen. Dabei wirkt „Who Are You?“, abgesehen von der Mundharmonika am Anfang, streckenweise wie eine abgeklärte Reprise auf die krachigeren Anfänge von „Strange Songs (In The Dark)“ oder eben „Children Of Desire“ und holt somit den Hörer an bekannter Stelle ab.  Die Schlagzeugprogrammierung vom darauffolgenden „Anxiety’s Door“ kniet sich mit Quasi-Linn-Drums, inklusive Tom-Roll-Fills, noch tiefer in die 80er als fast alles, was auf „Children Of Desire“ zu hören war. Dazu gesellt sich am Ende eine unglaubliche Stadionrock-Schweinegitarre, die ein ebenso wildes wie schmieriges Solo gniedelt, das dem Hörer in anderen Zusammenhängen vor Scham die Ohren bluten lassen würde – aber eben nicht bei Merchandise. Es funktioniert einfach, als wäre es das Natürlichste von der Welt und man muss nicht einmal rot werden.

Befasst man sich mit Merchandise, kommt man nicht um den Gesang von Carson Cox herum, der oft mit Morrissey verglichen wurde – ein Vergleich, der hauptsächlich am Gesangsstil beim Übersong von „Children Of Desire“ „Become What You Are“ festgemacht wurde. Und der sicherlich nicht ganz abwegig ist, aber Cox entwickelt seinen Vortrag immer mehr zu einem sehr eigenständigen Markenzeichen, das viel zum Alleinstellungsmerkmal der Band beiträgt. Was die Morrissey-Analogie vermutlich zusätzlich befeuerte ist, dass die beiden ein gewisser Hang zur Theatralik eint. Aber Morrisseys Ausflüge in nahezu campe Gefilde oder eine im heutigen Indie gern zur Schau gestellte, augenzwinkernde Ironie – nach dem Motto: Okay, ich weiß, über so was kann man heute (so) eigentlich nicht mehr singen, aber ich mache es trotzdem – gehen Cox weitestgehend ab. Selbst die banalsten, ungeheuerlichsten Textzeilen kommen bemerkenswert überzeugend daher.

Das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren verleiht dann selbst einer so seicht dahinplätschernden Ballade wie „I’ll Be Gone“ eine sinistre Tiefe und Erhabenheit und entzieht sie damit jedem Anflug von Lächerlichkeit. Im Anschluss mobilisiert „Totale Nite“ noch einmal die Beine  und evoziert mit in den Vordergrund tretendem, dissonantem Saxophonspiel eine vage an Tuxedomoons „No Tears“ erinnernde Ästhetik. Falls von der Band intendiert, ist das ein sehr geschickter Schachzug – zeigt er doch, dass sich Merchandise eher in der Tradition der amerikanischen Avantgarde der späten 70er, frühen 80er verorten, nicht in der von Joy Division. Im weiteren Verlauf seiner neun Minuten Spielzeit bricht „Totale Nite“ mittig fast auseinander, um anschließend gleißender und strahlender den Weg ins Säurebad fortzusetzen, in dem es sich am Ende – Saxophon-blubbernd und kreischend – auflöst. „I’ll Be Gone“ und das Titelstück sind die Schlüsselsongs dieser Sammlung: Der eine ist mit seinem Schmalz einfach zum Heulen schön, der andere rockt exquisit die Synapsen. Was bei Merchandises Songs außerdem immer einer besonderen Beachtung wert ist, ist das Sediment, aus dem bzw. auf dem sich die prominenteren Songstrukturen erheben / austoben. An diesen feingewobenen Sounds und Soundscapes zeigt sich am auffälligsten ihre persönliche Herkunft aus Hardcore und Noiserock und was sie von dort mitgenommen haben: Ein feines Gefühl für Timing und Effizienz.

Auch wenn sich dieser Text fast so liest: Wir befinden uns beileibe nicht in einem der Vorhöfe zur 80er-Retrohölle. Merchandise gelingt es gewissermaßen mit schlafwandlerischer Sicherheit, diese Untiefen sauber, ohne Blessuren und faden Beigeschmack zu umschiffen. „Totale Nite“ ist nicht größer oder besser als „Children Of Desire“ geworden, sondern hält das hohe Niveau und legt neue Spuren, schraubt dabei den verbliebenen Noise-Anteil aber noch ein wenig zurück. Sie bleiben eine der derzeit interessantesten Bands.

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