Der Liedschatten (98): Der gute Plastikpop

The Archies: “Sugar Sugar”, November – Dezember 1969
Was lässt sich Musikern und Bands nach ihrem kommerziellen Durchbruch am besten und pauschal vorwerfen? Dass sie kommerziell geworden seien, richtig. Noch schlimmer ist es aber, wenn einem Künstler oder einer Gruppe von vornherein nur kommerzielles Kalkül unterstellt wird.
„Kommerziell“ steht dabei synonym für berechenbar, reizlos und opportunistisch. Und wer auf eine solche Art Musik macht, verdient mit vollem Recht nicht immer Ver-, aber doch zumindest Missachtung. Mit einem „Ausverkauf“ haben diese mangelnden Qualitäten allerdings nichts zu tun, sie bergen nicht per se kommerzielles Potential.
Überhaupt, was soll das mit dem „kommerziell“? Was nicht kommerziell ist, kommt gar nicht erst in die Plattenläden. Selbst kleine, selbstbestimmte Bands und Labels lassen deshalb Platten pressen, weil ihnen der Verkauf ihrer Tonträger möglich scheint. Gut, sicherlich ist die Musik im Schlagersegment oder den Formatradios übermäßig auf möglichst hohen Absatz zugeschnitten, das ist das eine Extrem. Das andere ist eine Band wie Merchandise, die ihr empfehlenswertes Album „Children Of Desire” von vornherein kostenlos ins Netz stellt.
Die Gruppen mit dem geringsten kommerziellen Potential jedoch findet Ihr in den Proberäumen Eurer Stadt. Meist schreiben sie dort keinen unwahrscheinlich heißen Scheiß, der nur noch von irgendeinem Blogger entdeckt werden muss, damit ihn alle kostenlos hören dürfen, weil er ja nicht kommerziell sein soll. Dort erklingt zum Beispiel geradezu reaktionärer Punkrock, spielt man Alternativerock wie in den 1990ern, bereitet sich eine Skaband auf das nächste folkloristische Treiben in den Jugendzentren der Republik vor und stählen Metalheads voller Hingabe Blastbeats und Riffs.
Diese Musik also müsste nach einer Logik, die wirtschaftlichen Erfolg als Anzeichen eines moralischen und künstlerischen Verfalls wertet, zumindest authentisch, womöglich aber schlichtweg gut sein. Das ist sie trotz all der Liebe, die zu ihrer Entstehung führt, nicht. Deshalb zu sagen: „Qualität setzt sich eben durch“, ist dennoch falsch, das machen die relativ kleinen Verkaufszahlen selbst hervorragender und gleichzeitig bekannterer Bands deutlich, außerdem müssten dann die erfolgreichsten Bands die beste Musik spielen. Was fangen wir mit diesem Kuddelmuddel nun an?
Nichts weiter, wir stellen einfach fest, dass künstlerischer Anspruch weder eingefordert noch belohnt wird. Er ist an betriebswirtschaftlichen Kennzahlen, seien sie nun groß oder klein, nicht messbar. Musik nach diesem Gesichtspunkt einzuschätzen ist ein Fehler, der auf der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung basiert, in der alles nach Verwertbarkeit beurteilt wird und sogar das Bildungs- und Gesundheitswesen wirtschaftlich sein müssen. Sind Velvet Underground großartig? Gewiss. Aber nicht, weil ihre Alben in den 1960ern floppten.
Hier wie auch in allen anderen Belangen darf nicht anhand von Verwertbarkeit entschieden werden, was etwas taugt und was nicht. Nur muss man dabei gerecht sein und diesen Ansatz nicht nur auf Underdogs begrenzen, er kann genau so gut auf durch und durch kalkulierte Musikprojekte, in etwa The Monkees, oder unsere heutige #1, The Archies mit „Sugar Sugar“, ausgeweitet werden. Lasst uns, solange die Texte nicht zu bedenklich oder dämlich sind, einzig Musik hören und sie selbst beurteilen.
Für Drogengerüchte hätte es ruhig etwas bunter sein dürfen: Die fiktiven The Archies scheinen recht brav gewesen zu sein.
The Monkees waren eine gecastete Band, The Archies hingegen noch nicht einmal Menschen, sondern Cartooncharaktere, deren Musik sogar über Lebensmittelverpackungen vertrieben wurde. Ihre Serie lief von 1968 bis 1969 auf dem amerikanischen Sender CBS. Während dieser Zeitspanne hatte die virtuelle Band den meisten Erfolg, wobei „Sugar Sugar“ ihr größter Hit blieb.
Geschrieben wurde er von Jeff Barry und Andy Kim. Berry schrieb und produzierte gemeinsam mit Ellie Greenwich und teils Phil Spector wundervolle Songs wie „Da Doo Ron Ron” und „Then He Kissed Me” (The Crystals), „Be My Baby” (The Ronettes), „Remember (Walkin‘ In The Sand)”, „Leader Of The Pack” (The Shangri-Las), „Do Wah Diddy Diddy” (Manfred Mann), „I Can Hear Music” (The Ronettes sowie The Beach Boys) und „Hanky Panky”, den ersten Achtungserfolg von Tommy James & The Shondells (siehe die #1 „Crimson And Clover”) und schließlich auch „I’m A Believer”.
Diese Art von Produktion lässt sich als geradezu industriell bezeichnen, nur soll uns das nicht weiter stören. Selbst die meisten von Bachs Kantaten waren letztendlich Auftragsarbeiten, von denen jeden Sonntag eine abgeliefert werden musste, keine Eingebungen einer wie auch immer gearteten Inspiration nach Lust und Laune. Die Interpreten des Songs „Sugar Sugar” waren keine musischen Künstler im romantischen Sinn, sondern angeheuerte Interpreten. Für Freunde kurioser Zusammenhänge sei gesagt, dass Leadsänger Ron Dante (ebenfalls Synchronsprecher der männlichen „Archies”) ein paar Jahre vorher als Mitglied der Band „The Detergents” eine Parodie von „Leader of The Pack” aufgenommen hatte.
Nach einem weiteren, allerdings kleineren Hit mit der Gruppe The Tuff Links namens „Tracy” produzierte er unter anderem Barry Manilows Ballade „Oh Mandy”, eine Schnulze, die auch ohne Erfolg unangenehm berühren würde. Die weiblichen Gesangsparts von „Sugar Sugar“ steuerte die Songwriterin Toni Wine („A Groovy Kind of Love”, womöglich bekannt durch Phil Collins) bei. Koordiniert wurde die Produktion vom Manager Don Kirshner, der wiederum bereits für zum Beispiel The Monkees verantwortlich war.
Dieses fürchterliche Namedropping soll deutlich machen, dass wir professionellen Arbeitern der Kulturindustrie nicht nur diesen, sondern zahlreiche großartige Popsongs der 1960er verdanken, die weitaus eindringlicher sind als ein Großteil der Musik derer, die nach dem Motto „wir wollen gar keinen kommerziellen Erfolg [als ob ihn je irgendwer, der ihn nicht bereits erlangt hat, missachtet hätte], sondern ehrliche und handgemachte Musik spielen“.
„Sugar Sugar“ ist ein netter, leichtfüßiger Popsong, aus dem jeder heraushören kann, was er mag. „Sugar” und „honey” könnten für Drogen und Sex stehen oder einfach nur gut mit der anschmiegsamen, fröhlichen Musik zusammengepasst haben. Nicht umsonst nennt sich das Genre, dem The Archies ebenso wie The Monkees angehörten, “Bubblegum Pop” und richtet sich bevorzugt an ein kindliches bis jugendliches Publikum, das entweder den unbeschwerten, naiven Text mag oder mit zunehmenden Alter von jeder der drei Interpretationsmöglichkeiten gereizt werden dürfte, wodurch zumindest potentiell alle vom Schulkind bis zum Pothead und Hippie angesprochen werden. Das permanente Klatschen, die je nach Geschmack alberne oder ausgelassene Keyboardmelodie und die per Multitracking von Dante und Wine beigesteuerten Backing Vocals machen den Song zu einem netten Stück Plastikpop, wie es selbst durch Misserfolg nicht besser sein könnte.
Bleibt noch zu erwähnen, dass der damals übrigens noch unverschämt junge Andy Kim nun, mittlerweile 60-jährig, an einer neuen LP arbeitet. Zusammen mit niemand geringerem als Broken Social Scenes Kevin Drew – nur um das Kuddelmuddel aus kommerzieller und vermeintlich nicht kommerzieller Musik hier einmal zu vervollständigen.
[…] den 1960ern waren das unter anderem The Monkees („I’m A Believer“) oder The Archies („Sugar Sugar“). Ihre Lieder waren eingängig und beschwingt, die Texte naiv. Beides wurde meist von nicht zur […]