AUFTOUREN: 2012 – Geheime Beute

ALL WILL BE QUIET – ON THE FIRST DAY [Lionheart]

Wären Dredg nicht schon vor ziemlich langer Zeit in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, klängen sie heute vermutlich so wie All Will Be Quiet auf ihrem Debütalbum. Die bittere Kälte ihrer finnischen Heimat wird auf „On The First Day“ mit großem Ideenreichtum in hymnischen Songs modelliert, die einer puristischen Idee von Pop ganz nah kommen, gleichzeitig aber durch etliche progressive Elemente diese Vertrautheit aufbrechen. Nun ist diese Herangehensweise nicht neu, auch die extrem dichte Atmosphäre und Geschlossenheit, die die Band mit Leichtigkeit aufbaut, zeichnet viele andere Alben dieses Genres aus. Es ist die enorme, niemals pathetische Hingabe, die All Will Be Quiet von den Genre-Kollegen abhebt. (Felix Lammert-Siepmann)


GROUP RHODA – OUT OF TIME-OUT OF TOUCH [Night School]

Mara Barenbaum ist Group Rhoda. Sie verbringt ihre Zeit mit ältestmöglichen Synthies, antiquierten, für möglichst monotone Beats sorgenden Drum-Machines, mit ihrer distinguierten, fernen Stimme. Kurz: Unter San Franciscos Sonne schnitzt sie Songskulpturen aus Eis und Distanz. Psychedelisch bleibt da nur das Plattencover, die Songs sind 80er durch und durch, so New Wave und Industrial wie möglich. Als tanzte der Geist von Nico in einer verlassenen Fabrik im Winter, nur dass sie versehentlich die Upper und nicht die Downer eingeworfen hat. Abstrakt wie konkret minimalistisch vertont Group Rhoda Angst, in Eis eingewickelt und aus der Zeit gefallen, zu Marmorbüsten voller Abgründe. Der Abgrund blickt in dich hinein. (Sebastian Schreck)


BITS OF SHIT – CUT SLEEVES [Homeless]

Bits Of Shit kämen auch gut ohne einen Sänger aus. Das ihr Debüt eröffnende „F“ oder „Reign“ sind furios voranwalzende Punkgefährte, roh und voluminös und doch mit einem nötigen, wichtigen Grad an Spielfähigkeit zusammengehalten. Zwischen Wire, Fucked Up und Wipers geizen die Australier weder mit Energie noch mit Kanten und Brüchen, wie im zwischen ausgelassen gerader Linie und nervöser, abgehackter Bemessenheit hin- und hertitschenden „Patrol“, komplettieren ihr Flair leicht artiger Lederjacken-Rock’n’Roller aber erst mit einem enthusiastisch grantelnden Trunkenbold, der einer Kreuzung aus Mark E Smith und Jello Biafra erstaunlich nahe kommt. (Uli Eulenbruch)


HELM – IMPOSSIBLE SYMMETRY [PAN]

PAN ist sowieso in aller Munde dieser Tage: Beim Unsound Festival gab es in diesem Jahr eine ganze PAN-Labelnacht und vom FACT Magazine wurde das Berliner Label jüngst zum Label des Jahres gekürt. Nicht ohne Gründe. Einer der besten für diese Wahl hört auf den Namen Helm: „Impossible Symmetry“ ist Luke Youngers zweites Soloalbum und bietet analog-schlingernde elektroakustische Ambientstücke. Mit Heatsick bildet Younger das Avantgardedrone-Duo Birds of Delay, doch erst jetzt betritt er solo und vollkommen verdient eine etwas größere Bühne. Für Freunde von Haxan Cloak, Leyland Kirby und Waldspaziergängen. (Constantin Rücker)


LE1F – DARK YORK [Greedhead Entertainment/Camp & Street]

2012 verstärkte sich in der HipHop-Szene der Trend zum Mixtape im Vergleich zu den Vorjahren noch einmal. Le1fs „Dark York“ ist in dieser Welle sicherlich eines der besseren und ungewöhnlichsten. Durch die Mitarbeit namenhafter Mitstreiter wie Nguzunguzu fällt „Dark York“ nicht so aus, wie man es von einem Rapper aus New York City vielleicht erwarten würde. Le1f verzichtet größtenteils auf gängiges Sampling und greift stattdessen auf Synthies – der elektronische Zeitgeist ist hier nicht zu überhören – und Geräusche aus dem Alltag zurück. Auch textlich macht er nicht auf dicke Hose. Leif entlarvt für die East Coast typische Plattitüden, indem er mit ihnen spielt und sie letztlich als nutzlos brandmarkt. (Felix Lammert-Siepmann)


FENSTER – BONES [Morr]

So in etwa könnte das Skelett von Folk klingen. Ein Hauch morbiden Post-Folks umweht die dekonstruierten Songs auf „Bones“, die den Hörer immer weiter in den wunderlichen Wald der blanken Psyche führen. Als ob aus Mazzy Star und Leonard Cohen, in Schnipsel geschnitten und durcheinander gewirbelt, Songs gemacht worden wären für Jäger, Totengräber und Gespenster. Als wären Fenster nur der durchsichtigen Schönheit verpflichtet, als wäre der wirre, labyrinthische Weg der einzig begehbare, als wären alle großen Momente die der Trauer: „It’s just another thing you can’t control.“ So hören sich Gänsehautmassagen für verkopfte Seelen an. (Sebastian Schreck)


HOSPITALITY – HOSPITALITY [Fire]

Hospitality halten den Twee im Pop, fahren nur mit heruntergelassenem Dach Auto und Frühling ist sowieso immer in den zehn bunt blühenden, kleinen Pop-Blumen, die vor Lebens- und Singfreude nur so bersten. Amber Papini agiert so souverän und süß, wie die Musik verspielt Lebensqualität in dicken Batzen versprüht. Twang-Gitarren? Sax? Nasen zuhalten beim Singen? Holla, die Wundertüte! „We don’t laugh, we don’t smoke, we don’t understand a joke.“ – von wegen! Zurückhaltung ist was für die Coolen, während Hospitality vor allem eins machen: Spaß. Ausgelassen und Augenzwinkernd, instinktiv und direkt, charmant und süß wie Hölle. Diese Musik würde auch in Ihrem H&M keine schlechte Figur abgeben. (Sebastian Schreck)


FAY – DIN [Time No Place]

Mit „DIN“ hat Fay Davis-Jeffers von Pit Er Pat fraglos eines der spannendsten Artpop-R´n´B-Alben des Jahres abgeliefert. Gewiss, die Nische ist klein, die Konkurrenz überschaubar, aber FAYs Herangehensweise an die Songs unterscheidet sich derart gravierend von der anderer Künstler, dass sie ihre Chance verdient hat. „DIN“ birgt 10 wunderbar repetitiv-perkussive Kleinode für musikalische Freigeister, irgendwo zwischen den Fiery Furnaces, Boredoms, Co La und LV. Dubbige Songs aus frischem Holz. Einige spröde und ungelenk, andere mit weichem Fell bespannt. Aufgrund der experimentell-intuitiven Herangehensweise wird das Songwriting vernachlässigt und der Fokus stattdessen auf die Songtexturen gelegt. Das alles macht „DIN“ zu einem abwechslungsreichen, aber fraglos durchwachsenen Hörvergnügen. Dessen ungeachtet handelt es sich bei „DIN“ aber auch um eine der fesselndsten halben Stunden des gesamten Musikjahres 2012. (Constantin Rücker)


WHITE LUNG – SORRY [Deranged]

Im Gegensatz zu ihren Landsleuten von Nü Sensae sind White Lung auch bei ihrem zweiten Anlauf noch deutlich verwurzelter im traditionellen Punk Rock. Zehn Stücke in 19 Minuten sprechen eine deutliche Sprache, „Sorry“ ist schnörkellos, rau und wirkt durch den treibenden Gesang Mish Ways beinahe bedrohlich. Auch sonst geht die Band, die zu drei Vierteln aus Frauen besteht, geschickt mit der hiesigen Vorstellung von Riot Grrrls um. Poppige Momente, die hier und da sporadisch auftauchen, werden sogleich weggewischt, um den scheppernden Momenten wieder ihren angestammten Platz zu überlassen. Dies festigt den Eindruck eines wütenden Albums einer rastlosen Band. (Felix Lammert-Siepmann)


DELILAH – FROM THE ROOTS UP [Atlantic]

Jeopardy, die 500-Euro-Antwort: „Nachdem sie durch Dance-Features bekannt wurde, gelangte diese junge Engländerin 2012 auf Platz 5 der UK-Charts mit einem Debütalbum zwischen modern-geschmackvollem R’n’B im Erbe Sades und einem elektronischen Szene-Einfluss, der sich unter anderem in zwei Beiträgen eines angesagten Szene-Produzenten und einem formidablen Joe-Goddard-Remix äußerte“. Die Frage lautet, natürlich: „Wer ist Jessie Ware?“ – aber auch: „Wer ist Delilah?“ Unter kuriosen Parallelen lässt sich vieles, was über das eine Album geschrieben wurde, auf das andere beziehen, doch nur Wares schaffte den Sprung über die britische Insel hinaus. Wer die Kapazität für mehr als eines davon pro Jahr besitzt oder mehr zu LV und Trip-Hop als Bashmore und Softrock tendiert, trifft in „From The Roots Up“ auf Songs, die oft mehr wundervolle, ungewöhnliche Detailtiefen bieten, als es zunächst den Anschein hat. (Uli Eulenbruch)


PALLBEARER – SORROW AND EXTINCTION [Profound Lore]

Mag sein, dass Pallbearer mit „Sorrow and Extinction“ das Rad nicht neu erfunden haben. Wer in seinem Plattenschrank aber noch ein kleines bisschen Platz für Stonermetal übrig hat, kommt in diesem Jahr an „Sorrow And Extinction“ einfach nicht vorbei. Pallbearer liegen dabei irgendwo in der schmalen Grauzone zwischen Black Sabbath, Kyuss und Sleep, 50 Minuten lang schleppen sie sich durch eine eisige Kälte für ihre fünf Songs. Fünf Bretter, die fraglos nicht die Welt bedeuten, aber in der richtigen Stimmung und Lautstärke gehört eine emotionale Ergriffenheit vermitteln, die im Metalbereich durchaus Seltenheitswert hat. Manchmal fährt es sich mit angezogener Handbremse eben doch am besten. (Constantin Rücker)


PAGEANTS – DARK BEFORE BLONDE DAWN [Sensory Projects]

Woher, wenn nicht aus der Welt-Jangle-Haupstadt Melbourne sollte in diesem Jahr ein XXL-Janglepopsong wie „Footprints In The Sand“ kommen? Irgendwo zwischen Real Estate und Television unternehmen Pageants darauf eine melancholische Achteinhalb-Minuten-Achterbahnfahrt, doch ihr Debütalbum erweist sich als ohnehin als ein Füllhorn der Abwechslung. Hier glückselig chilliger Strandsound, dort aber auf einmal aggressive Verzerrung oder gar eine Portion schattigen Americanas – kein Stück ist mit einem anderen verwechselbar. Mit fein arrangierten Begleitvocals und nicht minder sanft verzahntem Zusammmenspiel der Instrumente vermag das australische Quintett immer wieder traumhaft aufs Neue, durch Texturen und Kontramelodien Komplexität ins Innere dieser eingängigen Songs bringen. (Uli Eulenbruch)


SKELETON$ BIG BAND – THE BUS [Shinkoyo]

Nachdem die Skeletons 2011 mit „People“ das bis dato stärkste und ausgeglichenste Album ihrer beschaulichen Karriere veröffentlichten, schien die Zeit reif, sich an neuen Konzepten zu versuchen. Die Idee, seine Musik mit einer Big Band umzusetzen, schwirrte schon länger in Matthew Mehlans Kopf herum. Für „The Bus“ versammelte er 20 befreundete Musiker in einem Raum und ließ den Dingen ihren Lauf. Ausgehend von der Idee, die fragmenthaften Impressionen unzähliger Greyhound-Bus-Reisen textlich und musikalisch zu verarbeiten, entstand ein über weite Strecken improvisiertes Konzeptalbum über das geordnete Chaos das alltäglichen Lebens. Beim ersten Hören wirkt das schroff und sperrig, wenn sich die unzähligen Instrumente wie eine Horde wilder Ameisen auf den rudimentären Songgerüsten auszubreiten beginnen. Hüllt sich der sensible Beobachter Mehlan doch zu gern in eine kakophonische Klangdecke, die Assoziationen mit den freieren Momenten von Godspeed You! Black Emperor ebenso zulässt, wie sie Erinnerung an die Free-Jazz-Big-Band-Ensembles von Alice Coltrane oder Archie Sheep wachruft. Doch wer „The Bus“ verstehen will, muss sich einlassen und lernt die kurzen Momente der Schönheit, die sich zwischen all der Hektik und dem Lärm verstecken, zu entdecken. (Till Strauf)


AVA LUNA – ICE LEVEL [Infinite Best]

„Ice Level“ ist nicht irgendeine Soulplatte und schon gar keine, der ein „R’n’B und “, sprich: HipHop, voran geht, sondern eine vertrackte und wilde. Getragen vom inbrünstigen Falsett des Sängers Carlos Hernandez umgarnen ihn die drei Frauenstimmen der Band ausgiebig und leidenschaftlich. Zutaten, die den Dirty Projectors allerlei Ruhm eingebracht haben. So weit sind Ava Luna (noch?) nicht, verschachtelt und durchdacht, seltsam rockig, wahnwitzig ausschweifend wird hier gesoult. Einige Versuche der Genreeinordnung: Math-Soul, Neo-Odd-Soul, beziehungsweise, in den Worten der Band: „nervous soul pop punk r&b/soul soul Brooklyn“. (Sebastian Schreck)


LEE GAMBLE – DIVERSIONS 1994-1996 / DUTCH TVASHAR PLUMES [PAN]

Und nochmal PAN. Wir reihen uns ein in die Lobeshymnen um das ästhetisch und konzeptuell höchstspannende Konzept des Ladens um Bill Kouligas. Als prägendster Name des Berliner Labels hat sich in diesem Jahr vermutlich Lee Gamble herauskristallisiert, neben Juju & Jordash und Voices From The Lake legte er den atmosphärisch dichtesten und experimentellsten Entwurf moderner Dancemusik vor. „Diversions 1994-1996“ ist einem unterschwellig vorangetriebenen Minimalismus unterworfen, während „Dutch Tvashar Plumes“ etwas unausgeglichener daherkommt und im Schatten seines Weggefährten steht. Dass Lee Gamble massenkompatibel ist, hat übrigens noch niemand behauptet. (Constantin Rücker)

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3 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2012 – Geheime Beute”

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