AUFTOUREN: 2012 – Geheime Beute


Konsens ist eine Sache, Geheimtipp eine andere.

Deswegen präsentieren wir, wie schon traditionell, nach unseren Jahrescharts heute und morgen unsere Geheime Beute: 30 Werke, die so unbekannt, schräg oder speziell sind, dass sie in einer Konsensliste keine Chance hatten – aber nichtsdestotrotz herausragende Alben des 2012er Jahrgangs darstellen. Von experimenteller Elektronik über Jazz, Noiserock, Pop, Metal, Folk und Disco sollte sich für nahezu jeden Geschmack darunter etwas finden – wir wünschen so viel Spaß beim Entdecken, wie wir ihn beim Hören hatten.


ANGEL OLSEN – HALF WAY HOME [Bathetic]

Haunting! Besser als mit dem in diesem Jahr sicherlich inflationär gebrauchten Begriff kann man Angel Olsens Album „Halfway Home“ kaum beschreiben. An der verwunschenen Grenze zwischen intensivem Folk-Songwriting und verhuschten Pop-Akkorden windet sich die Künstlerin mit akrobatischer Stimmfarbe am roten Faden der Sehnsucht entlang. Leider nicht mehr so verstiegen wie im Debüt „Strange Cacti“, jedoch mit klirrender, anmutiger Schönheit erzählt Olsen eingekehrt in sich selbst Geschichten von Hoffnung, Mut und Verzweiflung. Immer nah genug an möglichen Vorbildern der 60er Jahre kostet sie die ihr innewohnende Ruhe bis zum letzen Augenblick aus, um dann im letzten Schritt mit Verve aus der Reihe zu tanzen. Ein kleiner Triumph, ihren Weg in das Innerste mitzugehen. (Carl Ackfeld)


LUCAS SANTTANA – O DEUS QUE DEVASTA MAS TAMBÉM CURA [Diginois]

Die glorreiche Tradition brasilianischer Gitarrenmusik scheint einigermaßen eingeschlafen. Zu ehrfürchtig und mutlos wird das Erbe von João Gilberto bis Chico Buarque von ihren heutigen Epigonen verwaltet. Gut, dass es Typen wie Lucas Santtana gibt, einer der wenigen, dem es durch seine unkonventionelle Herangehensweise gelingt, Begriffen wie Bossa Nova oder Tropicalia wieder neues Leben einzuhauchen. Da wird auch vor Einflüssen wie Glitch oder Baille Funk nicht halt gemacht. Nach seinem Bossa-Loopexperimenten auf „Sem Nostalgia“, das im letzten Jahr auch in Europa ein wenig Aufmerksamkeit erregen konnte, wurde es 2012 wieder etwas traditioneller. „O Deus Que Devasta Mas Também Cura“ legt den Fokus auf das Songwriting und brilliert durch wunderschöne Bläserarrangements und Santtanas samtig düsteren Gesang. Hinter jedem wagemutigen Erneuerer steckt eben auch ein fabelhafter Musiker. (Bastian Heider)


THISQUIETARMY – PHANTOM LIMBS [TQA]

Eric Quach stand bisher immer im großen Schatten seines Mentors Aidan Baker. Und auch mit dem Release von „Phantom Limbs“ hat sich das wohl eher nicht geändert. Doch es zeigt einmal mehr die Klasse und Konstanz des Projekts thisquietarmy auf, mit dem sich Quach definitiv nicht mehr hinter bekannteren Größen wie eben Baker verstecken muss. Mit spürbarer Liebe zum Detail zerlegt er nur mit Gitarre und Verstärker das Phantom Stück für Stück in seine Einzelteile, bis die nur noch leicht kratzenden Gitarrenspuren und störischen Drones sauber getrennt nebeneinander liegen, um im abschließenden 20-minüter wieder zusammengefügt zu werden. (Felix Lammert-Siepmann)


CARTER TUTTI VOID – TRANSVERSE [Mute]

„Transverse“ ist ein Generationentreffen der ganz besonderen Art. Anlässlich des Mute-Labelfestivals schlossen sich Chris Carter und Cosey Fanni Tutti, die schon seit Jahrzehnten unter anderem mit Throbbing Gristle auf der dunklen Seite der Musikwelt für Furore sorgen, und Nic Void von Factory Floor – eine Band, die man guten Gewissens immer noch als Newcomer bezeichnen kann – zusammen. Das Album wurde live eingespielt, was der ohnehin schon bedrohlich abweisenden Atmosphäre einen zusätzlichen Schauer verleiht. Dem minimalen Industrial, der auch hier die Grundlage für alles bildet, wird auf unheimliche Art und Weise fortwährend neues Leben eingehaucht. Ob nun die aufflackernden Beats oder die meditativen Gesangspassagen dafür verantwortlich sind, ist nebensächlich: Diese Zusammenarbeit ist ein voller Erfolg. (Felix Lammert-Siepmann)


EVANS THE DEATH – EVANS THE DEATH [Fortuna Pop!/Slumberland]

Fast hätte man annehmen können, Jangle- und Schrammelpop wäre in diesem Jahr geschlossen ins neue Indie-Mekka Melbourne ausgewandert. Doch neben Allo Darlin‘ bewiesen vor allem Evans The Death, dass mit Bands aus dem Hause Slumberland eben immer zu rechnen ist. Ihren energetischen Gitarrenpop bringen sie mit einer gehörigen Ladung Rotz und lyrischer Gewitztheit über die Bühne. Und obwohl ihr schrammelnder Stilmix denkbar unprätentiös daherkommt, hagelte es für sarkastische Alltagsbeobachtungen prompt erste Vergleiche mit Jarvis Cocker. Diese zwölf „Teenage Kicks“ kommen jedoch letzendlich auch ganz ohne großartige Erklärung aus und treffen mit voller Wucht direkt ins Herz. (Bastian Heider)


ASH BORER – COLD OF AGES [Profound Lore]

Beim jüngsten Black-Metal-Revival wurde oft mit Begriffen wie „Post“, „Experimental“ oder „Avantgarde“ hantiert, um dem an und für sich doch recht obskurem Genre einen hipperen und zeitgemäßeren Anstrich zu verleihen. Dabei waren die Grundzutaten, aus denen etwa Wolves In The Throne Room ihre düsteren Meilensteine extrahierten, schon bei den norwegischen Genre-Großvätern der 90er vorhanden. Atemberaubende Blastbeats, sägende Gitarrenwände und gutturales Gekreische verschwimmen so auch bei Ash Borer zu monumentalen Felswänden aus Sound, die letztendlich gar nicht einmal so weit von Postrock oder Shoegaze entfernt sind. Vier epochale 15-Minüter, so eisig wie unbarmherzig, machen aus „Cold Of Ages“ das vielleicht beste klassische Black-Metal-Album des Jahres. (Bastian Heider)


YOUNG SMOKE – SPACE ZONE [Planet Mu]

Als Zusammenstellungen aus Dutzenden und Aberdutzenden von Einzelstücken ihrer hochproduktiven Macher darf man bei Footwork-Alben schon von Glück reden, wenn sie nicht so lieblos sequenziert sind wie DJ Earls in Einzelstücken überragendes „Audio Fixx“. Das Debütalbum von Young Smoke jedoch glänzt nicht nur in seiner Trackanordnung als kohärentes Gesamtwerk, sondern wartet auch mit einem übergreifenden Soundkonzept auf, in dem eine eigens kreierte, samplefreie Klangpalette wie aus einem Sci-Fi-Flipperautomaten einen spacigen Abschuss nach dem anderen liefert. Laserfeuer, Kollisionswarnungen und Roboter-Statusberichte treffen auf Sternennebel und Beatfluktuationen – welcome to the space zone!


SIMON JOYNER – GHOSTS [Sing, Eunuchs!]

Letztendlich kennt kaum jemand Simon Joyner, obwohl er doch nunmehr seit 20 Jahren erlesene Songwriting-Platten veröffentlicht. Dabei braucht es eigentlich nur das eröffnende „Vertigo“ seines aktuellen Doppelalbums „Ghosts“: In unglaublichen siebeneinhalb Minuten führt er die so gerne selbst auferlegte Melodieseligkeit ad absurdum und fabuliert in seinem unverwechselbaren Knurrtimbre in analoger Herrlichkeit über Gott und die Welt. Der titelgebenden Schwindel wird dann vollends offenbar, wenn sich alle 17 Stücke in voller Gänze in die Gehörgänge geschraubt haben, springt Joyner doch von rückwärtigen Feedback-Gitarren zum sanften Folksong und zurück. Hat da jemand Uff gesagt? Dann bitte jetzt eine Runde über Kopf! (Carl Ackfeld)


THE KDMS – KINKY DRAMAS & MAGIC STORIES [Gomma]

Unter gelegentlich irritierendem Authentizitäts-Beigerede präsentierte sich New Yorker Disco im Schatten von Hercules & Love Affair dieses Jahr in großen Liveband-Verbünden wie Escort und Midnight Magic, doch auf der anderen Seite des Atlantiks kam das schönste Album von einer klassischen Duo-Besetzung. Die Engländerin Kathy Diamond, wohl am meisten von ihrem Aeroplane-Feature bekannt, zeigt sich einmal mehr als moderne Eurodance-Diva par excellence. Ihre eleganten Songs zeigen in der modern-funkfreudigen Produktion ihres Kollaborateurs Max Skiba neben dem obligatorischen Glamour eine bemerkenswerte emotionale Tiefe, insbesondere im finalen „No Sad Goodbye“, wenn sie von Streicherumschwärmtheit auf ein einsames „I still love you“ absinkt. (Uli Eulenbruch)


QUAKERS – QUAKERS [Stones Throw]

Über fehlende Kreativitätsschübe kann Geoff Barrow echt nicht klagen. Wenn er sich auch mit Portishead gerne eine Dekade Zeit für ein neues Album lassen mag, juckt es zwischendurch immer wieder an anderen Stellen ziemlich in den Fingern. Dieses Jahr etwa reichte es anscheinend nicht aus, das tolle Zweitwerk seiner spannenden Krautrock-Postpunk-Band Beak> fertigzustellen und all dies mit einer ziemlich ausgiebigen Tour zu krönen, nein, es sollte noch mehr sein: „Noch mehr“ bedeutet im Falle Barrows mal eben satte 41 Tracks. Exakt so viele tummeln sich auf „Quakers“, dem gleichnamigen Debüt seines neuen Oldschool-HipHop-Babys. Ganze 35 MCs sind auf diesem 70-Minüter versammelt, der trotz aller stimmlichen Vielfalt lässig homogen wirkt und dessen dichtes Konstrukt die Anzahl an Songs zu jeder Zeit rechtfertigt. Das können sonst eigentlich nur Madvillain – die allerdings lassen sich bekanntlich noch mehr Zeit als Portishead.  (Pascal Weiß)


MOTION SICKNESS OF TIME TRAVEL – MOTION SICKNESS OF TIME TRAVEL [Spectrum Spools]

Nicht selten deutet die Veröffentlichung eines selbstbetitelten Albums auf den Versuch hin, die musikalische Essenz des bisherigen Schaffens in repräsentative vierzig Minuten zu pressen. Auch wenn man sich bei einer umtriebigen Person wie Rachel Evans nicht sicher ist, ob sie überhaupt nur einen Gedanken an solche Fragen verschwendet, scheint für „Motion Sickness Of Time Travel“ Ähnliches zu gelten. Sicher, in Evans‘ Welt bedarfs es etwas mehr Zeit, die Dinge wirken zu lassen. Keine der vier auf dieser Doppel-LP befindlichen Synthie-Meditationen schafft es unter die 20-Minuten-Grenze. Zeit genug, sich im repetitiven Spiel der Linien zu verlieren und ausgiebig in den ostentative Drones umspülenden Gesangsschleifen zu baden, ohne sich dabei an esoterischem New-Age-Geplänkel stören zu müssen. Trotzdem siegt hier die Intuition über den Verstand, führt die Richtungslosigkeit der nicht enden wollenden Loop-Kaskaden doch ins scheinbare Nichts. „Motion Sickness Of Time Travel“ ist weder bahnbrechend noch zukunftsweisend, sondern bleibt trotz hypnagogischer Umhüllung ein klassisches Ambient-Drone-Album. Wenn auch das wahrscheinlich schönste des zurückliegenden Jahres. (Till Strauf)


FOXYGEN – TAKE THE KIDS OFF BROADWAY [Breakfast Horse/Jagjaguwar]

Mangelndes Namedropping ist nichts, womit sich Foxygen ernsthaft befassen müssten. Die Kinks, MGMT oder die Beatles sind nur einige der Bands, die in regelmäßigen Abständen in die Runde geworfen werden, wenn von den Kaliforniern die Rede ist. Eines vorab: Keiner dieser musikalischen Einflüsse ist an den Haaren herbeigezogen. Eher noch ist man gewillt zu sagen, der charismatische Sänger Sam France mit seinem talentierten Mienen- und Rollenspiel erinnere an den jungen Mick Jagger. Was aber viel wichtiger ist: Foxygen wollen und müssen diese Sache zu keiner Zeit erzwingen. Sie schreiben erstaunlich reife Songs mit charmantem Schwarz-Weiß-Anstrich aus glorreichen Popzeiten und haben dabei ähnlich wie eben MGMT mit „Congratulation“ tierischen Spaß, ihre Songs immer wieder umzukrempeln, wenn man sich gerade mal zurechtfindet. Überhaupt ist Freude wohl das erste, was diese Band charakterisiert, die bereits heute mit einer erstaunlichen Bühnenpräsenz ausgestattet ist. Und das Beste? In wenigen Wochen kommt bereits das neue Album. (Pascal Weiß)


VOICES FROM THE LAKE – VOICES FROM THE LAKE [Prologue]

„Voices From The Lake“ ist eines dieser Alben, in denen man jedes Zeitgefühl verlieren kann und will. Keine Ahnung, ob nun 10, 20 oder 45 Minuten vergangen sind, in denen man sich mit seinem Ambient-Techno als ein wundervoll immersives Stück feuchter Stimmung und Atmosphärik abgefunden hat, als diese dezent majestätische Melodie einsetzt und eine neue Dimension aufspannt. Eingerahmt von Wasserplätschern in Nebelschwaden erstreckt sich Voices From The Lake als die Symbiose aus Donato Dozzy und Neel, deren analoge und digitale Ansätze nahtlos organisch ineinander greifen, improvisatorisch locker und doch mit durchgehender Führungslinie nie zu formstreng oder formlos wird. Ein Album, für das man sich Zeit nehmen kann und will. (Wobei darauf hingewiesen sein sollte, dass die jüngst erschienene Vinyl-Version sehr anders und m.E. nicht ähnlich gut ist)


KING DUDE – BURNING DAYLIGHT [Van]

Der König ist tot, lange lebe der König. Wer sich in diesem Jahr noch nicht genug gefürchtet hat, dem sei King Dude alias TJ Cowgill empfohlen. Seine Stimme klingt teilweise noch brüchiger als Leonard Cohens und gewaltbereiter als Tom Waits, mit ihr lässt er in „Burning Daylights“ das ein oder andere Nackenhaar zum Himmel steigen. Mit diabolischer Freude zelebriert er eine Mischung aus trotzigem (Neo-)Folk und knorrigem Americana, dem aber eine Black-Metal-Vergangenheit deutlich anzumerken ist. Mythisch im Text, mystisch im Kontext und trotz der gewöhnungsbedürftigen Klangstruktur wunderbar eingängig, löst der Dude in diesem Jahr Cult Of Youth um die Vorherrschaft im Dark-Folk-Segment mit Verve ab. (Carl Ackfeld)


SUPERSTORMS – SUPERSTORMS [Experimedia]

Glitchiges Prickeln und digitales Fauchen fließen durch den Raum, zerfasertes Dröhnen schwillt wüst oszillierend zu imposantem Volumen an. Nein, ein typisch nettes Ambient-Album ist das Debüt von Michael Tolan als Superstorms nicht. Mit noisiger Digitalbearbeitung radikalisiert er seine Klangpalette um übersteuernde und komprimierende Verfremdung, lässt Momente klaren Saitenspiels mit Knisterrauschen umsägen und unterfüttert massive Krachcrescendi mit delikaten Melodiebewegungen. Es ist dieses graduelle Interpolieren beider Extrempositionen, die „Superstorms“ zu einer elektrisierenden und doch auch meditativen Hörerfahrung machen. Sollte man laut abspielen. (Uli Eulenbruch)


Seiten: 1 2

3 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2012 – Geheime Beute”

  1. […] den Redaktions-Jahrescharts 2012 und den 30 Alben aus unserer „Geheimen Beute“ gibt es nun noch den ultimativen Geschmacksabgleich: Die Einzellisten der AUFTOUREN-Schreiber. […]

  2. […] “Take The Kids Off Broadway” hat es nicht umsonst in unsere Geheime Beute 2012 geschafft und in Utrecht beim vergangenen Le Guess Who? waren die Jungs aus L.A. unbestritten eines […]

  3. […] ihr hochgeschätztes letztjähriges Album „Cold Of Ages“ bei Profound Lore lassen die US-Black-Metaller Ash Borer […]

Einen Kommentar hinterlassen

Platten kaufen Links Impressum