Der Liedschatten (94): Zum Glück indiskutabel

Edwin Hawkins Singers: “Oh Happy Day”, Juli – August 1969

Einst glaubte ich, bei der sogenannten „Gretchenfrage“ würde es sich um das Anerbieten Fausts handeln, eben besagtes Gretchen ein Stück Weges zu geleiten, wozu sie doch bitte seinen Arm ergreifen möge.

Faust hatte dabei durchaus unlautere Absichten, die sich auf ihr späteres Schicksal auswirkten. Und unlauter scheinende Absichten, die hatte auch ich, beziehungsweise glaubte ich, sie hegen zu können, zu müssen, hoffte auf einen Anlass, um mich mit ihnen konfrontiert zu sehen. Und all das kam mir eben sehr faustisch vor, vor allem, da meine persönliche Variante der Gretchenfrage mich bereits beschäftigte, bevor wir das Stück im Unterricht behandelten, dem älteren Bruder sei es, nun ja, gedankt.

Bei dieser recht bedeutenden Frage geht es aber gar nicht um Schäkerei, sondern Religion, nämlich: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“. Dem recht braven, gläubigen Gretchen nämlich scheint da beim Magister Faust einiges unklar zu sein – zurecht. So ein Teufelspaktler geht durch seine Verschreibung einige Verpflichtungen ein, vor allem, seiner Seele verlustig zu gehen, und da macht sich ein frommer Lebenswandel eher schlecht.

hawkins_happyWas diesen anbelangt, so handelt unser heutiger Hit vom Beginn eines im christlichen Sinne gottgefälligen Lebens, worunter sich allgemein die Entscheidung dazu, in etwa durch Taufe und Konfirmation, als bewusste Form des Bekenntnisses verstehen lässt. Ob er ebenso auf Firmung und Ähnliches auch anwendbar ist, weiß ich nicht, da ich über den Gebrauch des von Haus aus eher protestantischen Gospels in der katholischen Kirche nicht Bescheid weiß, überhaupt sind im Rahmen des Christlichen ja noch viel mehr Kirchen, Sekten, Grüppchen und sonstige vorhanden. Sie alle dürften jedoch einen Moment der religiösen Erweckung, Erleuchtung oder Angefülltheit mit dem Heiligen Geist kennen, an dem sich der Mensch von seiner eigenen Wahrnehmung loslöst und in den Genuss eines Glaubens kommt, der höher als alle Vernunft ist.

Viele dürften das als befreiend empfinden, was verständlich ist. Immerhin setzt man sich in diesem Moment über die Vernunft hinweg und entwickelt ein völlig neues Selbstverständnis, indem eine Erzählung, eine bloße Hypothese zum bestimmenden Teil des Lebens wird. Alles ist plötzlich so einfach und wer daran nicht verzweifelt, freut sich darüber. Eine allumfassende und allein dadurch unbegreifliche Offenbarung wird Grundlage nicht nur der eigenen Existenz, sondern jeglichen Seins. Nicht umsonst heißt es zumindest zum Abschluss des evangelischen Gottesdienstes: „Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Worauf die Gemeinde antwortet: „Amen“ – also in etwa „so sei es“ oder, etwas salopp gesprochen, „Jawoll!“

Selbst eine Jahrtausende alte Tradition ändert nichts am höchst unwahrscheinlichen Charakter sämtlicher religiöser Lehrmeinungen. Damit sind nicht ihre ethischen Gemeinplätze gemeint, solche sind durchaus und im besten Sinne diskutabel. Ob man nun die die linke Wange hinhalten soll, nur, weil man schon auf die rechte geschlagen wurde, ob man des Nächsten Gut nun begehrt oder nicht, darüber mögen sich Menschen unterschiedlichster und auch ohne Bekenntnisse austauschen. Nur steht in der Bibel nicht „Denkt mal drüber nach, wie ihr miteinander leben wollt und ob es womöglich gut ist, demjenigen, der euch Böses antut, keinen Widerstand zu leisten“ (worauf die Antwort sehr wohl „Nein, ist es nicht“ lauten kann), sondern „Du sollst nicht“ und obendrein noch allerlei Mythologisches, in etwa die Auferstehung eines Toten, als unumstößliche Wahrheiten.

Solche wider alle Vernunft zu akzeptieren ist etwas Besonderes und gilt innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen als freudiges Ereignis, wovon „Oh Happy Day“ berichtet. Der Spiritual aus dem 19. Jahrhundert wird interpretiert von den Edwin Hawkins Singers, einem Chor, dessen Leiter aus dem Umfeld einer amerikanischen baptistischen Kirche stammt. Für diese ist die bewusste, durch den Täufling selbst gewünschte Taufe von großer Bedeutung. Das Stück hört ihr nun in einer Live-, nicht der Singleversion, die lässt sich ja aber ohne Schwierigkeiten erwerben oder streamen.

Die Aussage ist ihre Sache, die Musik aber sehr fein.

Gospel Music ist zu einflussreich gewesen, um sie einfach auf ihre ursprüngliche Funktion, das Verbreiten und Besingen der Evangelien, also der Erzählung vom christlichen Heiland Jesus, zu beschränken. Hier ist es wie so oft, Werke werden nicht dadurch relevant, dass einem ihr Inhalt behagt, und Gospel ist – und sei es „nur“ für die amerikanische Popularmusik – von nicht zu unterschätzender Bedeutung, man denke allein an den Soul. Der obige Song jedoch steht dabei schon für eine moderne Form des Gospel, den kommerziell relevanten Urban Contemporary Gospel.

Die Themen dieser Musik gläubiger Menschen lassen sich dabei selbstverständlich nicht ausblenden, man kann sich jedoch auch mit dem Genre des Gospel befassen, ohne sie gutzuheißen. Schließlich gibt es auch Lieder über Landstriche, die man niemals sah, über Beziehungen, die man nicht führte und über wildes Tanzen, die sich als Kopfnicker genießen lassen. Auch der Abstinenzler vermag Lieder über Exzesse zu goutieren.

Deshalb mag von mir aus jemand berichten, wie er von Sünden befreit wurde, die ich nicht als solche betrachte, überhaupt zwar Fehler und Verbrechen, aber eben keine Sünden anerkenne, oder von einem Sohn Gottes singen, obwohl ich wohl von Söhnen weiß, einen Gott aber nicht einmal für nichtexistent, sondern irrelevant halte. Denn es ist nicht nötig, diese anthropozentrische Legitimationsphantasie für so ziemlich alles zu widerlegen, solange es keinen Beweise für ihre Wirklichkeit gibt, es reicht, ihrem Geltungsanspruch nicht nachzugeben. Und nein, „heilige Schriften“ zählen dabei nicht, weil ihre Anerkennung als eben solche ja auf einem Glauben basiert, der niemals ein Wissen sein kann und das auch gar nicht sein darf, sonst würde er am Ende ja sachlich diskutiert werden können. Und was wäre das für eine Religion, die nicht vollkommen indiskutabel ist.

2 Kommentare zu “Der Liedschatten (94): Zum Glück indiskutabel”

  1. Eigentlich ist Atheismus, vor allem wenn er mit erhobenem Zeigefinger agiert, die abstruseste Form von Religion. Weil sie von Christen, Muslimen und all den Glaubensrichtungen einen Beweis einfordert, einen Beweis freilich, den sie selbst ja auch nicht erbringen kann. Denn so wenig wie Christen ein Polaroid von Gott vorzeigen können, können auch Atheisten nicht mit Brief und Siegel postulieren, dass es keine höhere Macht gibt. Auch deshalb ist Atheismus keine aufgeklärte Anschauung, weil sie ein seit Menschengedenken manifestierte Grundbedürfnis des Glaubens gern lächerlich macht. Dabei jedoch kein stichhaltiges philosophisches oder gar mathematisch ausgereiftes Gegenmodell anbietet. Es ist ja nicht so, dass Glaube nur auf kindischer Naivität beruht. Wer dies meint, sollte Thomas von Aquins Gottesbeweise studieren.

    Eine religiöse Äußerung ist also keineswegs indiskutabel. Oder doch nur für den, der andere Meinungen nicht akzeptiert. Der christliche Wertekanon – wie in den 10 Geboten dargestellt – ist doch in vielerlei Hinsicht auch das, worauf moderne Rechtsordnungen fußen. Es ist also nicht so, dass Christen jeden Sonntag zusammengekommen und damit aus der Zeit fallen, weil sie den Gottesdienst als vernunftfreien Zone erleben. Glaube ist auch eine Entscheidung aus Vernunftgründen, weil ein System immer auf ein gestaltendes Element zurückzuführen ist. Das Chaos im Zimmer meiner Freundin ist nicht zufällig entstanden, sondern wird von ihr sorgsam genährt. Die Wege eines Labyrinths führen auch nicht zufällig in die Irre – oder gar ans Ziel.

    Leider hast du bei aller Polemik zu erwähnen vergessen, dass Glaube auch Hoffnung beinhaltet und sich dieses positive Element in Oh Happy Day bestens wiederfindet.

  2. Lennart sagt:

    Indiskutabel ist der Glaube nur insofern, als dass wir nicht wirklich darüber diskutieren können, ob Jesus nun auferstanden ist oder nicht. Da möchte ich gar keinen Beweis einfordern, auch nicht für die Existenz Gottes. Ansonsten möge ein jeder nach seiner Facon glücklich werden.

    Stimmt, Hoffnung gibt es für Atheisten recht wenig.
    Tatsächlich ist es so, dass aus der Annahme, die jetzige Existenz sei die einzige, wenig Trost resultiert. Nun muss man dabei aber nicht stehenbleiben, sondern kann daraus auch die Schlussfolgerung ziehen, diese sei so lebenswert wie möglich zu gestalten. Oder auch, dass die Gedanken der Bergpredigt nur dann sehr schön sind, wenn es ein Reich Gottes gibt. Daraus lassen sich durchaus Schlussfolgerungen ziehen, in etwa beim Existenzialismus, der durchaus ein philosophisches Modell anbietet.

    Nun mag er nicht sonderlich ausgereift sein, aber da haben die Religionen einfach ein paar Jahrtausende Vorteil. Und so ein geschlossenes Weltbild wie bei ihnen entsteht eben nur durch Glauben. Dass dieser ein Grundbedürfnis ist, wage ich zu bezweifeln, ich verspüre es nämlich nicht.

Einen Kommentar hinterlassen

Platten kaufen Links Impressum