Das UNSOUND Festival Krakau 2012: It’s all about the Music
Was für ein Fest für Liebhaber experimenteller, elektronischer Musik! Ein Line-Up, das jeden audiophilen Mitteleuropäer, der keine Karte mehr ergattern konnte, um den Schlaf gebracht haben muss; Weltpremieren von aTelecine, Ben Frost, Tim Hecker und Daniel Lopatin; großartige Veranstaltungsorte und eine Atmosphäre, die ihresgleichen sucht in der europäischen Festivallandschaft. Das UNSOUND Festival hatte es auch im sonnigen Spätherbst 2012 gut gemeint mit seinen Besuchern.
Daniel Lopatin & Tim Hecker
Es herrschte eine eigenartige Stimmung auf der Abschlussveranstaltung am Sonntagabend. Die meisten Gäste waren bereits abgereist. Jene, die noch ausharrten, waren gezeichnet von den vergangenen Tagen. Aber wie so oft vereinte die gemeinsame Erschöpfung und es überwog letztlich die Freude darüber, dass man dabei war. Vergessen war der Kater des Vortages, vergessen der Ärger über die langen Fußmärsche zu Beginn des Festivals, inzwischen wusste man: In Polen kann man sich die Taxis noch leisten. Und was blieb, waren wunderschöne Erinnerungen – und Erkenntnisse: zum Beispiel, dass es im Gegensatz zu vielen anderen Festivals beim UNSOUND weder penetrante Werbebombardements noch überflüssige Mega-Acts gibt, die lediglich Geld in die Kassen spülen sollen.
Stattdessen zeugte das Line Up ausnahmslos vom ausgezeichneten musikalischen Fingerspitzengefühl der Organisatoren. Alles war fokussiert auf die Musik und deren angemessene Präsentation, die Veranstaltungen waren maximal entzerrt, kaum Überschneidungen zwischen ihnen. Acht Tage lang fanden mittags, nachmittags und abends Konzerte, Diskussionsrunden und Filmvorführungen statt – mal in einer Kirche, mal in einer Synagoge, mal in einem Museum oder in einem sozialistischen Hotelbau an der Weichsel. Und es war ein offenes, experimentierfreudiges Publikum, das sich da durch die hübschen Gassen Krakaus zu den Veranstaltungsorten schob. Anders ist es nicht zu erklären, dass beispielsweise dem betäubenden Auftritt Tim Heckers und Daniel Lopatins (aka Oneohtrix Point Never) in der gotischen St. Katharinenkirche beinahe eintausend Menschen beiwohnten. In Anbetracht der gewaltigen Kulisse und Darbietung konnte einem regelrecht angst werden, ehrfürchtig wartet man seitdem auf „Instrumental Tourist“, das gemeinsame Album der beiden.
Im Vorprogramm spielte übrigens „Julia Holter“ vier eigens komponierte Stücke mit der Unterstützung eines Streichquartetts, ihr äußerst gelungener Auftritt blieb jedoch vor allem durch seine überraschende Kürze in Erinnerung. Leider wäre es ebenso endlos wie ermüdend, alle Highlights im Einzelnen abzuarbeiten. VesselVessel gehörte beispielsweise zu den großen Gewinnern, aber auch The Haxan Cloak und Pole. Emptyset verlangten ihrem Publikum alles ab, bevor Factory Floor zum psychedelischen Todesstoß ansetzten. Shed blieb im Anschluss nur noch die undankbare Rolle, die Trümmer wieder zusammenzukehren. Ben Vida, Black Rain und ganz besonders Helm überzeugten am Nachmittag in intimer Atmosphäre; ebenso wie das beeindruckende Set von Wife, dem neuen Nebenprojekt des Frontmanns von Altar Of Plagues.
Für den kontroversesten Teil des Festivals fühlte sich jedoch ein anderer berufen: James Leyland Kirby alias The Caretaker ließ anlässlich des UNSOUND Festivals sein Ambienttrashprojekt V/Vm wieder auferstehen. Bekanntheit hatte dieses vor allem durch seine düsteren Bearbeitungen von Chris de Burghs „Lady In Red“, Berlins „Take My Breath Away“ oder auch Robbie Williams´ „Angels“ erlangt. Erstmals seit 2006 betrat Kirby unter diesem Alias wieder eine Bühne und zelebrierte dies mit einer Multimediaperformance, die in dieser Art und Weise sicher niemand erwartet hatte.
Während auf der Leinwand ein britisches Staatsbegräbnis flimmerte, ließen sich Kirby und sein Mitstreiter in Särgen auf die Bühne tragen, entstiegen ihnen, rissen sich das Klopapier vom Leib und gaben Michael Jacksons „Thriller“ zum besten. Es folgten Bryan Adams‘ „Everything I Do (I Do It For You)“, Motörheads „Ace Of Spades“, trashige Karaokevideos und verwackelte Handkameraaufnahmen. Eigentlich war das alles ein großer Spaß, der jedoch die Erwartungshaltung und Interpretationssucht vieler Gäste so brutal ins Leere laufen ließ, dass er an vielen Seiten auf Unverständnis stieß.
Biosphere und Lustmord gelang es im Anschluss in beeindruckender Manier, das Bedürfnis der meisten Besucher nach ersthafter Unterhaltung wieder zu stillen: Unterstützt vom UNSOUND Festival waren beide in die Wüste New Mexicos gereist und präsentierten mithilfe von Field Recordings und Archivmaterial eine Klangcollage über die ersten amerikanischen Atomwaffentests. Biosphere & LustmordEine weitere ebenso positive Überraschung waren am folgenden Tag sicherlich Raime, die für aTelecine und Ben Frost eröffneten und deren Auftritte durch ihre vollkommen stimmige Performance letztlich in den Schatten stellten. Ihr Debütalbum wird im November auf Blackest Ever Black erscheinen.
Der Auftritt von aTelecine wurde von der Gegenwart eines ihrer Mitglieder, der einstigen Pornodarstellerin Sasha Grey überschattet. Ihrer angenehm zurückhaltenden Bühnenpräsenz standen überlebensgroße Visuals und Nahaufnahmen ihres Gesichtes oder ihrer Hände gegenüber, sodass der Fokus immer wieder von der Musik abgelenkt wurde auf ihre Person. Eigentlich hätte die Band das gar nicht nötig gehabt. Anschließend trat Ben Frost zum ersten Mal mit zwei Drummern auf und dirigierte diese im Muskelshirt durch ebenso unruhige wie ungewohnte Postrockgewässer. Leider beschränkte sich das unglaublich intensive Set auf die immer wiederkehrenden Wechsel von Stille und darüber hereinbrechenden Schlagzeuggewittern.
aTelecine
Perkussiv ging es dann auch weiter mit Cooly G. Begleitet wurde sie durch ihr unglaublich lässiges Set von einem Drummer, der unentwegt rund ein ganzes Dutzend Kuhglocken bearbeitete. Mit Mala, Kuedo, Ben UFO oder Heatsick folgten weitere großartige Highlights dieses schier endlosen Musikmarathons, an dessen Ende sich höchstens ein einziger Kritikpunkt offenbarte: die Basslastigkeit und Lautstärke einzelner Auftritte. Besonders deutlich wurde dies etwa im Vergleich zum Auftritt Helms, dessen leise, bassfreie Performanz den Blick schärfte für die technische Perfektion seiner Darbietung. Anderen Künstlern muss man dieses Kompliment schlicht verwehren, da derart feine Unterschiede leider nicht wahrnehmbar waren oder die Sinne inzwischen vor lauter Vibration und Reizüberflutung kapituliert hatten.
Thematisch stand die diesjährige zehnte Auflage des UNSOUND Festival unter dem Motto „The End“. Und so oft es von den Künstlern oder in den Diskussionsrunden auch beschworen wurde, eingetreten ist es nicht. Nicht einmal eine dezente Untergangsstimmung wollte sich im Schatten des Wawel breit machen. Im Gegenteil: Eine solch angenehme und anregende Atmosphäre hat man selten erlebt auf einem Festival dieses Ausmaßes und Ranges. Kaum ein Künstler, der nicht auch bei einem Auftritt einer anderen Band gesichtet wurde oder der sich dem Austausch mit dem Publikum entzog. Keine Veranstaltung, die schlecht besucht war oder enttäuschte. Und wenn das Ende so aussieht wie in jener Woche in Krakau, dann bin ich auch bei der nächsten Apokalypse gerne dabei.