Letztes Jahr, im Anschluss an den Headliner-Auftritt, ergab sich in Köln ein prototypisches Sinnbild: Während die eine Hälfte hocheuphorisiert durch die Gänge schwebte, vergrößerte die andere kopfschüttelnd die Schlange zum Ausgang, immer noch überrumpelt und benommen – „Was war das denn für ein Scheiß?“

Die Antwort darauf steht im Zentrum von „Centipede Hz“. In Form eines hämischen Gelächters, das über ganz Merriweather hinweg(g)rollt. Das bereits in den ersten dreißig Sekunden dieses Beinahe-Rockalbums seine Fratze zeigt, durch das grelle Sockenschuss-Video von „Today’s Supernatural“ rauscht und erst zum Ende von Deakins „Wide Eyed“ ausbricht. Im Grunde scherzt aber bereits der Albumtitel. Denn „Centipede Hz“ dürfte sich – abgesehen von der bandeigenen „Transmission“-Reihe – beim handelsüblichen Radiosender ziemlich schwer tun.

Dabei wäre es an sich gar nicht so spektakulär, dass die Gruppe mit Rückkehrer Deakin alias Joshua Dibb wieder zu einem Quartett angewachsen ist (schließlich sind Animal Collective in der Vergangenheit genauso häufig „vollzählig“ gewesen wie nicht), wenn hiermit nicht gleichzeitig auch die Rückkehr zum monatelangen gemeinsamen Jammen einhergegangen wäre – jener Grundstein, der im Sommer 2000 in David „Avey Tare“ Portners Apartment in Downtown New York gelegt wurde und der fortan die Basis jedes weiteren Zusammenspiels sein sollte.

Denn obgleich „Merriweather“ das glorreiche Finale einer immer stärker songorientierten Entwicklung darstellt, an deren Ende sich Portner und Noah Lennox alias Panda Bear in „My Girls“ so harmonisch ergänzen wie einst Paul Simon und Art Garfunkel, so hat all der Erfolg gleichzeitig das Fundament dieser Band ins Wanken gebracht: Seit 2001, als sie als Vorband ihrer Brooklyner Kollegen Black Dice debütierten, verzichteten Animal Collective meistens darauf, live zu reproduzieren, was bereits auf Platte gepresst worden war.

Stattdessen liegt der Fokus seit jeher auf dem steten Prozess des Experimentierens, dem Austesten neuer Songideen – gerade auch vor Publikum. Infolge der ausgiebigen „Merriweather“-Tour, der unkontrolliert anwachsenden Beliebtheit und dem anhaltenden Hype um Panda Bears „Person Pitch“ blieb zur Jahrzehntwende jedoch schlicht keine Zeit für neue Songs. Konnten Animal Collective zur Veröffentlichung von „Strawberry Jam“ bereits nahezu das komplette „Merriweather“ präsentieren, hatte der zunehmende Rummel nun die Ausgangslage verändert.

„And all the things in my head and all the expectations of
doing something special
I could be gone today
but where do they take me?“

Ja, wohin eigentlich? Im Hinblick auf die Glasgower Musikszene um Rustie und Hudson Mohawke und den aufkeimenden Maximal-Ansatz, hieven Animal Collective diesen auf ein anderes Terrain und formen ein genauso faszinierendes wie zeitgemäßes Werk, das aus allen Nähten platzt. Das richtige Album zur rechten Zeit. Gleichzeitig erinnert „Centipede Hz“ mit seinem schmutzigen Garagen-Charakter aber auch an frühe Bandtage, ans noisige „Here Comes The Indian“, nicht zuletzt weil es im Gegensatz zum poppigen „Merriweather“ stellenweise ähnlich aggressiv und unberechenbar ausfällt.

Strukturell lässt sich das neue Werk in vier Teile gliedern, mit klassischer Doppel-Vinyl-Aufteilung und dementsprechend drei Pausen zwischen den ansonsten ineinander übergehenden Stücken. Kein reines Faden wie auf den letzten Alben, sondern nahtlose Übergänge, die einerseits dem Titel entsprechend das Skippen zwischen diversen Radioprogrammen, genauso gut aber auch das elektrisierende Flickern von geladenem Stacheldraht verkörpern könnten, der nach einem letzten grellen Aufblitzen in sich zusammen sackt. Dies geschieht besonders auffällig nach dem intensiven dritten Viertelblock, mit dem lichtkegelnden Panda-Bear-Manifest „New Town Burnout“ (wer kann diesem Song widerstehen?) und Avey Tares „Monkey Riches“, einem basswabernden Koloss, der sich in der zweiten Hälfte zum energetischsten Shit seit „We Tigers“ hochschaukelt.

Dass Avey Tares Stimme den Großteil von „Centipede Hz“ dominiert (manchmal sogar mit Main- und Backing-Vocals gleichzeitig), liegt daran, dass es Noah Lennox wieder zurück an die Drums zieht. Bereits im Vorjahr zur Veröffentlichung seines Soloalbums „Tomboy“ gab er Rockbands wie Nirvana oder die White Stripes als wichtige Einflussgrößen an. Somit verwundert es kaum, dass hier zumeist Mikro und Sampling den begeisternd eigenwilligen Drums weichen. Ein Lächeln erscheint auf dem Gesicht von Lennox, wenn er genauso schelmisch wie ausführlich erklärt, wie er zu den Aufnahmen von „Centipede Hz“ mit ausgefallenen Percussion-Modifikationen den fantastischen Produzenten Ben Allen in den Wahn trieb. Zur Freude aller sind es gerade diese blechbüchsigen Tribal-Drums, die das ohnehin schon überbordende Album maßgeblich vorantreiben und noch unkonventioneller gestalten.

Euphorisiert überschlägt sich auch Avey Tare im eingangs loshämmernden „Moonjock“ – „And then we ran out again and then we ran out again, we ran it out, ran it out!“. Der noch am ehesten greifbare Obst-Hit „Applesauce“, dessen wiederkehrendes Motiv („I eat a mango and I’m feeling like a little honey can roll“) eine der einprägsamsten Stellen auf dem Album kennzeichnet, spielt seinen eigentlichen Höhepunkt nach knapp fünf Minuten nur ganz kurz an, während „Amanita“ zum Abschluss spätestens mit dem siebten Haken ins Leere laufen lässt, um dann noch ein paar zerstückelte „Ohoho“s hinterher zu trällern. So viele Ideen, dass sie für fünf Alben gereicht hätten – ähnlich wie bei MGMTs Meisterwerk „Congratulations“.

Wer vor dem morastigen, noisig-psychedelischen Sound mit all seinen schrägen Geräuschen und seiner dichten Intensität zurückschreckt, dürfte an „Centipede Hz“ zumindest anfangs wenig Freude haben. Für alle anderen ist es der schrillste Psych-Trip des Jahrzehnts. Wie Kubricks LSD-Farbfahrt in „2001: Odyssey In Space“. Wenn man sich von der persönlichen Lieblingsband der vergangenen Dekade eines gewünscht hätte – es wäre dieses Album: „Out of my body, out of my mind, lift this weight, leave my light on.

95

Label: Domino

Referenzen: Panda Bear, Gary War, Silver Apples, Deerhunter, Rustie, Black Dice

Links: Homepage | Facebook | Albumstream

VÖ: 31.08.2012

13 Kommentare zu “Animal Collective – Centipede Hz”

  1. René sagt:

    Der Albumstream-Link ist fehlerhaft. Bin gespannt, Album ist nun dann doch vorbestellt. ;)

  2. Pascal Weiß sagt:

    Danke für den Hinweis, René, Link geht jetzt.

  3. So richtig gepackt hat’s mich noch nicht. Aber bisher gab’s ja auch nur den Stream. Versuch’s dann später noch einmal.

  4. Armin sagt:

    Die überbewerteste Truppe überhaupt. Versuchen immer möglichst freaky und anders zu klingen. Dabei ist das nur wieder die hipste Ration für die Generation ADHS. Wer das abfeiert hat keine Ahnung von richtiger Musik.

  5. Lennart sagt:

    ah so… pascal, würdest du bitte umgehend damit aufhören, dich über musik zu äußern? armin mag das nicht.

  6. Ich war ja schon was besorgt. Bei den letzten Alben war ich mir live bereits vorab ziemlich sicher, was mich erwarten würde, aber hier kam es mehr denn je darauf an, wie das Ganze im Studio umgesetzt werden würde. Aufs erste Hören (insbesondere im weniger feinen Stream) präsentiert sich ein großer Matsch, aus dem sich aber immer deutlicher (insbesondere mit Kopfhörern) die unterschiedlichen Akzente der Songs rauskristallisieren.

    Für mich zumindest ist das Große an diesem Album, dass es zwar diesen homogenen, irgendwie überdrehten Weit-Draußen-Klangrahmen absteckt, wie man es auch von so manch avantgardistischerer (oder auch rein effekthascherischer) Platte sagen könnte, dabei aber so viel wohlgeformter in der Exekution ist (allein schon der Bass!), dass es solch eine Vision einmal in herausragend klarer Handschrift ausformuliert.

  7. Mark sagt:

    Hab jetzt endlich die Vinyl-Version (mit allem) bekommen und muss sagen, dass ich mich wirklich schwer mit der Platte tue. Zündet auch nach mehrmaligen hören – in unterschiedlichen Stimmungen – nicht, wirkt mir viel zu gewollt.

    Flow wird eben nicht einfach dadurch erzeugt, dass die Stücke ineinander fließen und Weirdness nicht damit sämtliche Lücken im Sound mit „lustigen“ Geräuschen zu füllen.

    Bitte nicht falsch verstehen, die Platte hat schon ihre Momente, aber trotzdem erscheint sie mir im Augenblick als einer der Kandidaten für eines der überbewerteten Alben des Jahres zu sein.

  8. Pascal Weiß sagt:

    Du meinst dann unsere Wertung, oder? Denn insgesamt fallen die Kritiken der Magazine, die bisher immer Höchstwertungen für AC gegegeben haben (FACT 2,5/5, Pitchfork 7,4 etc.) ja eher niedrig aus. Ist für mich aber auch alles nachvollziehbar und spricht für den Vergleich mit der letzten MGMT – auch weil es jeweils direkter Nachfolger eines extrem beliebten, erfolgreichen und für beide Bands ungewöhnlich poppig ausgefallenen Albums ist. Ich kann absolut verstehen, dass einem das alles zu viel ist. Würde mich übrigens nicht wundern, wenn Animal Collective genau das gewollt haben. Zu Zeiten von „Here Comes The Indian“ sah die Kritik von außen etwa ganz anders aus, was sicherlich mit den Erwartungen zusammen hängt, denn da hatte man keinen Vorgänger „Merriweather“. Übrigens gehe ich jede Wette ein, dass insbesondere P4k in einigen Jahren von „underrated Centipede“ sprechen wird.

    Denke, dass es manchen aber auch anders geht, deswegen spaltet diese Platte ja auch so. Für mich ist „Centipede“ jedenfalls neben „Sung Tongs“ das stärkste Album der Band.

  9. Pascal Weiß sagt:

    Alice Deejay, „Better Off Alone“:) Große Liste, das muss echt ein Liebhaber sein:

    http://www.spin.com/articles/the-animal-collective-centipedia

  10. […] die musischen Künste. Dort wird heute mehr denn je wiederholt und plagiiert. Selten geworden sind Bands, die aus der Norm fallen und sich stetig neu erfinden. Doch es gibt noch Ausnahmen wie Deerhoof, die sich nichts aus Geradlinigkeit machen und sich schon […]

  11. […] „Centipede Hz“ und „Swing Lo Magellan“ konnten wir schließlich gleich zweimal über die 90%-Marke […]

  12. […] Collective als heißester Scheiß unter der Sonne abgefeiert wurde, fielen die Reaktionen auf deren jüngstes Album abseits der Auftouren-Redaktion oft verhalten aus. Die Neudefinition von Psychedelia hatte […]

  13. […] dabei sind keine Geringeren als Animal Collective und Grizzly Bear, deren aktuelle Alben in unserer Redaktion für große Begeisterung sorgen. Doch […]

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