Dockville 2012: Diesmal kein Extremsport

Während in London die Olympischen Spiele ein Ende fanden, die Documenta in Kassel weiter gute Kritiken und Besucherzahlen vermelden konnte und das 29. Haldern Pop seinen Lauf nahm, fand auf der Elbinsel Wilhelmsburg in Hamburg ein Spektakel statt, welches die genannten Events im Prinzip überflüssig machte. Das sechste MS Dockville Festival stand an.
Viele offene Fragen im Vorfeld ließen die Spekulationen hochkochen: Würden wieder extremere Sportdisziplinen wie Schlammcatchen und Sumpf-Wettschwimmen die Klassiker Limbo und Flunky Ball ersetzen (wie es im letzten Jahr der Fall war)? Würden die ausgestellten Kunstwerke in die politische Wirklichkeit eingreifen oder sich hinter bloßer Formalität verstecken? Und wie würden die popkulturellen Spiele musikalisch unterlegt werden?
Doch bevor sich der Besucher den Antworten auf diese Fragen widmen konnte, galt es, sich in der Spielstätte zurechtzufinden. Wie jedes Jahr war sie auch dem erfahrenen Besucher immer wieder aufs Neue ein Irrgarten aus insgesamt sechs Bühnen und zwei Campingplätzen, die aufgrund dringend erforderlicher neuer Industriebauten auf einem immer engeren Geländer verteilt werden mussten. Dies gelang aber außerordentlich schnell, alles war sehr übersichtlich, die Besucherzahlen noch gering und es konnte festgehalten werden, dass das Schlammcatchen in diesem Jahr wohl ausfallen dürfte: Das Wetter war gut und die Aussichten für Samstag und Sonntag noch besser.
Tag 1
Der erste Tag war ansonsten geprägt von einem relativ schwachen Line-Up. I Am Oak machte gute Folkpopmusik und wusste in dieser Wohlfühlmusikrichtung zu überzeugen, doch lud er Menschen, die von dieser Musik schon lange gelangweilt sind, nicht dazu ein, ihre Haltung zu hinterfragen. Yor lieferte im heimeligen „Nest“, einer von Bäumen und Holzbauten umsäumten Bühne, aber einen starken Auftritt und trieb Tänzer des Festivals zum ersten Mal zu Höchstleistungen an.
Auch stark an diesem Tage: Vierkanttretlager, die – unverkennbar norddeutsch – Turbostaat ernsthaft Konkurrenz machen konnten und mit zeitgemäßer Punkmusik und kraftvollen Texten lang nicht so indieboymässig rüberkamen wie in ihren Videos. Inwiefern die überragend gestaltete Bühne namens „Maschinenraum“ zum Erfolg des Auftritts beisteuerte sei dahingestellt, denn auf dieser hörte man an diesem Wochenente fast ausnahmslos gute Konzerte. Die Bühne war im Hintergrund mit Schiffscontainern gedeckt und bildete sonst ein Art offenes Zelt, sodass man auch direkt draußen am Elbufer stehend die Konzerte sehen konnte. Die Hafengebäude im Hintergrund taten ihr Übriges, um eine faszinierende Atmosphäre erlebbar zu machen.
Maxïmo Park auf der Hauptbühne veranstalteten eine kleine Zeitreise ins Jahr 2007, nur gestört von einigen Songs, die nach diesem Jahr entstanden. Dass die Band weniger Kraft verströmte als damals merkte man deutlich, auch wenn Paul Smith sein Bestes gab, um wie gewohnt hyperaktiv auf der Bühne rumzuspringen. Hot Chip machten danach ihre Sache gut, aber wer den Fehler machte, der parallel auftretenden Apparat Band eine Chance zu geben ärgerte sich hinterher. Deren Elektromusik mit „echten“ Instrumenten klang in ihren schlimmsten Momenten wie die Klassik-Sensation der Stunde Adya, Cello und Geige sei Dank.
Nachts um Eins sollte aber noch das eigentliche Highlight des Tages kommen, ein bizarrer Auftritt des vielgelobten Connan Mockasin. Eigentlich sollte dieser schon um 18 Uhr stattfinden, wurde jedoch aus unbekannten Gründen verschoben – womöglich hatte die Band ihren Flug verpasst. Denn auch nachts um Eins nahm sie es nicht so genau mit der Pünktlichkeit, baute gemächlich auf, ohne sich sichtbar zu beeilen und fiel ebenso durch ein außergewöhnliches Erscheinungsbild auf: Drei männliche Bandmitglieder hatten Frauenfrisuren und trugen seltsame Gewänder und Sonnenbrillen. So weit so gut, wenn denn der Auftritt gut ist, wartet man doch gerne auch mit schmerzenden Beinen und zunehmender Müdigkeit. Doch als das Konzert mit halbstündiger Verspätung endlich losging, ertönte ein schlimmer Soundbrei, der danach klang, als hätte man auf einen Soundcheck lieber verzichtet. Der Band war’s egal, keine Entschuldigung, kein Zeichen des Bedauerns, manche würden es Lässigkeit nennen, andere Respektlosigkeit vor dem Publikum.
Tag 2
Gleich nach dem Aufstehen ging es zur nächsten Disziplin: Freischwimmen in der Elbe. Wer klug genug war, den für ein Festival sehr ruhigen Campingplatz zu verlassen und außerhalb des Festivalgeländes zum Elbufer zu gehen, konnte an einem tollen Sommermittag Schwimmen gehen und noch nebenbei eine herrliche Hafenkulisse bewundern. Würden die Hafengeländebesitzer dies mal erlebt haben, würden sie um keinen Preis versuchen, das Festival wie geplant aus Hamburg und dessen Hafenbereich zu vertreiben.
Bis zu den Highlights am Abend galt es ein eher schleppendes Nachmittagsprogramm zu überstehen, geprägt von süßem und nettem Folk und Elektro. Vor Wye Oak und Lucy Rose spielte Daughter ein bezauberndes Konzert, in der sie ihre sympathische Schüchtern- und Verlegenheit bis aufs Äußerste mit einem Lächeln kaschierte – sie war merklich überrascht vom guten Zuspruch des Publikums -, Dillon hingegen bekräftigte ihren Status als (berechtigter) Hype.
Nach dieser Extradosis aus Sängerinnen brachten Future Islands eine andere Stimmfärbung. Der uramerikanische Synth-Pop erinnerte live sehr an ihre Landsleute The War On Drugs oder Destroyer, besonders der Sänger zeichnete sich durch eine beeindruckend soulige Stimme aus – eines der gelungensten Konzerte des Festivals.
Marsimoto ließ während seiner Auftrittes keinen Joint unangezündet und feierte den Nonsens wie sonst keiner auf diesem Festival, verdächtig riechende Rauchwolken umhüllte die Musik, die live noch viel druckvoller war als auf den Alben, was auch an zwei großartigen DJs an Marsimotos Seite lag. Ebenso besser als die Studioversionen seiner Songs war James Blake, der seine Songskizzen live zu echten Songs ausbaute – der Hype von „Limit To your Love“ machte sich aber auch bemerkbar, als viele nach diesem Song, der zur Mitte des Konzerts gespielt wurde, wieder von Dannen zogen.
Nächtliche Highlights waren Ghostpoet, der überzeugte aber mit der schlechten Akustik des „Nests“ zu kämpfen hatte, und Robag Wruhme, Hamburger Lokalmatador und Pudelclub-DJ, der den wohl besten DJ-Auftritt des Wochenendes hinlegte, auch weil seine Musik wohl die beste Vertonung der Dockville-Atmosphäre bietet.
Tag 3
Sehr spärlich besetzt war das Line-Up des Sonntags, und die warme Sonne und die müden Beine machten das Festival immer mehr zum 35. Kilometer eines Marathons. Doch wie Olympiasieger Stephen Kiprotich hielt man durch, musste dabei nur einen betont lustlosen Auftritt von Die Heiterkeit anhören, die das Publikum mit ihrer Lethargie leider eher nervten als erheiterten, bis zur Belohnung in Form eines kraftvollen, aber sträflich schlecht besuchten (viele Besucher hatten wohl doch schon vorzeitig aufgegeben und den Heimweg angetreten) Auftrittes von tUnE-YaRdS, die positiv an Paul Simons Graceland erinnerten.
Die auffallend geringe Besucherzahl an diesem schönen Sommertag war sicher dem bescheidenen Programm geschuldet, doch hatte sie auch ihr Gutes, denn so konnte man sich ungestört der Kunst des Festivals widmen. Eine Künstlergruppe schrieb Sätze aus Tolstois „Krieg Und Frieden“ auf Besucherhaut, doch das meiste war zu versteckt oder das Design zu ähnlich, als dass es dem gewöhnlichen Besucher groß aufgefallen wäre. Führungen erleichterten die Suche nach der Kunst und das Fehlen von Werbebannern, die den Kunstcharakter des Events gestört hätten fiel jedem auf, der auf Großfestivals einmal etliche Male denselben Werbeclip sehen oder sich im „Coca-Cola-Soundwavezelt“ verabreden musste. Wer noch nie auf dem Dockvillefestival war, dem sei gesagt, dass man wohl nur dort eine solche Mischung aus Natur, Industrieromantik und Kunst findet.
Wer auch immer zu den Leuten gehörte, die schon vorzeitig abreisten, es müssen Ignoranten der deutschsprachigen Indiemusik sein: Sie ließen sich den ersten Auftritt Tocotronics nach deren Pause entgehen und somit den wohl mit am meisten Spannung erwarteten Auftritt der Usain Bolts der deutschen Musikszene. Neue Songs wurden leider nicht gespielt, dafür aber eine perfekte Auswahl ihrer besten. Auffällig viele ältere waren darunter, ohne auf die wichtigsten der jüngsten Alben zu verzichten – mit dem Highlight „Im Zweifel Für Den Zweifel“. Dirk von Lowtzow wirkte noch dandyhafter als früher, Rick McPhail hat so enorm abgenommen, dass man ihn kaum wiedererkannte, aber insgesamt wirkte die Band so kraftvoll wie eh und je, ohne Anzeichen von Müdigkeit nach dem Ende ihrer Aufnahmen zum zehnten Album, als sie das Konzert mit dem grandiosen „Sag Alles Ab“ beschlossen.
Noch am selben Abend wieder Zuhause angekommen schaltete ich noch einmal den Fernseher an, die Abschlussfeier der Olympischen Spiele lief noch. Die wiedervereinigten Spice Girls, Eric Idle, Beady Eye, Queen, Muse. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas zu verpassen, weil ich dort nicht live anwesend war, als würde diese Abschlussfeier nicht nur Olympia gelten, sondern auch einem gelungenen Festival, welches eine tolle Atmosphäre bot, aber vom Line-Up her weniger als früher zu bieten hatte, nicht begeistern konnte. Alles hat eben seine Zeit und vielleicht ist es so nur logisch, wenn das Dockville bald wohl nicht mehr in Hamburg stattfinden können wird.