Der Liedschatten (76): Eine Kindheit für Erwachsene

Heintje: “Mama”, April – Mai 1968

Es hätte nicht erst eine Schallplatte aus Schokolade in Herzform gebraucht, um die Süßlichkeit des heutigen Stückes zu verdeutlichen. Oder soll die Platte vom Schmelz des Liedes profitieren? Möglich wäre es.


Sicher an nichts schuld: das Kind Heintje als Darsteller des Kindes Heintje in „Zum Teufel mit der Penne“, 1968.

Es wäre nun ein Leichtes, den Schlager „Mama“ und seinen Interpreten „Heintje“ alias Hendrik Nikolaas Theodoor Simons aus den Niederlanden zu verspotten, notwendig ist es nicht. „Mama“ ist nichts anderes als Kitsch, darin liegt seine kommerzielle Qualität. Hier zählt nur die unmittelbare Wirkung, kein Sinngehalt, keine Lebensnähe und schon gar kein Konflikt. Es ist damit ein Glanzstück schlagerimmanenter Weltfremdheit, nicht, weil hier ein Junge seiner Liebe zur Mutter Ausdruck verleiht, sondern weil dies mit folgenden Worten geschieht:

„Tage der Jugend vergehen

Schnell wird der Jüngling ein Mann

Träume der Jugend verwehen

Dann fängt das Leben erst an

Mama, ich will keine Träne sehen

Wenn ich von dir dann muß gehen“

Was haben diese Zeilen mit der Lebenswelt eines 12jährigen zu tun? Eine Trennung von der Mutter kann sich aus zivilisierten, in etwa einer Reise oder einem Internatsaufenthalt, wie auch menschenunwürdigen Anlässen des Leides ereignen, solch ein Monolog wird dabei jedoch mit Sicherheit nicht vorgetragen. Auch die Worte des Trostes

„Mama

Du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen

Mama

Einst wird das Schicksal wieder uns vereinen“

scheinen dem kindlichen Gemüt unangemessen, wobei es ja durchaus möglich wäre, dass einem Kind der mehr als schwammige Begriff „Schicksal“ geläufig sein kann, mit „Gott“ und „Volk“ funktioniert es ja auch. Dazu noch dürften ähnliche große und gefährliche Worte wie „Bestimmung“ und „Vorsehung“ geläufig gewesen sein, immerhin hatte die Bevölkerung lange genug die Herrschaft und Ziele von Mördern gutgeheißen, die nur zu gerne mit solchen Brocken hantierten.

man_quinnZum Text werden wir gleich noch einmal kommen, halten wir erst einmal fest, dass sich angesichts 1 Million verkaufter Singles niemand am unpassenden Vokabular gestört haben dürfte. Außerdem muss bei Kindern nicht immer alles stimmen. Wer würde die Basteleien aus dem Kindergarten schon nach ästhetischen Grundsätzen beurteilen oder das Blockflöte spielende Kind eines schlechtes Ansatzes bezichtigen? Und wie viel schroffer, ja geradezu gewalttätig wäre es dann, einen für seine Mama singenden Jungen zurückzuweisen?

Sich dem Urteil Erwachsener auszuliefern wird honoriert. Niemand möchte als gefühlloser Stoffel dastehen, wenn junge Menschen frisch gewaschen und gescheitelt mit Händen an der Hosennaht Gelerntes in gefälliger Form vortragen.

Dabei darf ein Kind altklug sein, solange es nichts Wahres ausspricht – eine Bedingung, die allein schon dadurch erfüllt wird, dass Kinderlieder und ähnliches meist nicht von Kindern stammen. Tun sie es doch, wirken sie alles andere als unschuldig, siehe die oft derben Abzählreime wie in etwa

„Ene mene titschn tatschn

ene in die Fresse klatschn

ene noch dazu

und raus bist Du.“

Von solchen Dingen soll ein „braves Kind“ gefälligst nichts wissen, generell soll es nicht wissen, nur aufblicken und anhimmeln, wer Kraft früherer Geburt bereits vor ihm existent war und deshalb stets alles besser weiß.

Das Wissen der Erwachsen gilt in diesem Zusammenhang als auf Kosten kindlicher Unschuld erworbener Ballast, als plötzlich hereinbrechende Schwere des Seins, von der ein Kind nicht die geringste Ahnung habe und die es, was vollkommen widersinnig ist, gerade deshalb jedoch respektieren soll. Das verklärende Seufzen der Nostalgie eines „Ach ja, damals“ und ein aggressives „Komm du erst mal in mein Alter!“ sind zwei Seiten einer Medaille in den Westentaschen der Menschen, die Abweichungen vom der Huldigung des „Ernst des Lebens“ nur dann etwas abgewinnen können, wenn sie als Ritual oder Klischee auftreten.

Die Kunstfigur Heintje war ein solches. Sie schien einer Welt zu entstammen, in der bedingungslose Liebe zu den Eltern alles außer einem lauteren Lebenswandel in deren Sinne unmöglich macht, was angesichts Stones, Beatles, Hippies und Studentenbewegung die Sehnsucht nach adretten Sprößlingen gestillt haben dürfte.

„Mama“ war nicht nur inhaltlich Teil einer „guten alten Zeit“. Es wurde bereits 1938 für den Tenor Benjamino Gigli geschrieben und 1941 im italienischen Film „Mamma“, der auch im damaligen Deutschen Reich zu sehen war, in der Übersetzung von Bruno Balz („Das Kann Doch Einen Seemann Nicht Erschüttern“, „Ich Weiß, Es Wird Einmal Ein Wunder Gescheh’n“) verwendet. Es ist deswegen also immerhin möglich, dass der Titel bereits in einem „erwachseneren“ Zusammenhang bekannt war.

Zusätzlich erschien der Schlager 1959 in einer Version von Connie Francis, jedoch ohne zu charten. Anders Margot Eskens 1964, für ihre Darbietung gab es immerhin Platz 8. Zur Interpretation von Bärbel Wachholz mit variiertem Text („Ich möcht‘ noch einmal deine Hände küssen“) von 1965 lässt sich in Bezug auf Hitlisten keine Aussage treffen, sie erschien in der DDR und dort gab es keine Charts. Elisa Gabbai aus Israel hingegen hatte 1966 immerhin vier Lieder in den Top 40 der BRD, dass sie das Lied veröffentlichte, dürfte es, obwohl es nicht in die Hitlisten gelangte, erneut populär gemacht haben.

Heintjes Version des Stückes war eine unter vielen. Warum war das Lied nicht schon vorher ein Erfolg? Ein sentimentaler Text und pathetischer, mit schwülstigen Arrangements unterlegter Gesang waren ja auch schon vorher die wenig dezenten Reize von „Mama“, doch womöglich unterschied sich das Lied gerade deshalb nicht genügend von anderen Schlagern der Jahre 1959 – 1967. Als 1968 jedoch Steppenwolf „Born To Be Wild“ waren, die Small Faces einen „Lazy Sunday“ propagierten und die Rolling Stones vom „Street Fighting Man“, die Beatles gar einer „Revolution“ sangen, war Heintje eine geradezu symbolische Alternative. Man darf beinahe froh sein, dass Stücke wie Aretha Franklins „Think“ oder „Say It Loud – I’m Black And I’m Proud“ von James Brown aus demselben Jahr in der BRD missachtet wurden. Wer weiß, was für einen reaktionären Backlash das gegeben hätte.

5 Kommentare zu “Der Liedschatten (76): Eine Kindheit für Erwachsene”

  1. Carl Ackfeld sagt:

    Der Erfolg Heintjes bzw. „Mamas“ hat meiner Meinung nach fast ausschließlich mit seinem ersten Auftritt in den Paukerfilmen zu tun, die ja damals Strassenfeger gewesen sind. Interessanterweise hat die Szene, in der Heintje sein „Mama“ und dann später „Ich bau dir ein Schloß“ zum besten gibt, mit dem restlichen Film nahezu gar nichts mehr zu tun, somit hat hier sicherlich Rührseligkeit bei einem möglichst großen, launig gestimmten Publikum auf breiter Basis zum erhofften Erfolg geführt.

  2. Lennart sagt:

    Auf jeden Fall hat das etwas mit den Filmen zu tun, so wurden ja Schlager gemacht. Dennoch spielt hier das „Wer was wie“ eine sehr große Rolle, „Über welches Medium?“ ist dann noch mal etwas anderes.

  3. […] Kind Hendrik Nikolaas Theodoor Simons mit Künstlernamen Heintje kann man hier wie auch in Folge LXXVI keinen Vorwurf machen, überhaupt ist es eine Unart, Kindern etwas vorzuwerfen. Er konnte singen […]

  4. […] bereits „Mama“ und „Du Sollst Nicht Weinen“ wurde es nicht eigens für ihn geschrieben, anders als bei […]

  5. […] nichts davon wissen, dass Heintje noch eine #1 hatte. Damit wären es dann insgesamt vier. Erst „Mama“, dann „Du Sollst Nicht Weinen“, schließlich „Heidschi Bumbeidschi“ und nun „Ich Sing […]

Einen Kommentar hinterlassen

Platten kaufen Links Impressum