Reib (XIV): Beim Inder

Reib (XIV): Beim Inder


Zurück in der Heimat. Eltern besuchen. Und alte Kollegen, klar. Die sieht man inzwischen alle viel zu selten. Aber wehe wenn, dann artet es in schöner Regelmäßigkeit aus.

Direkt am ersten Abend daheim ist großes Gelage in Nachbars Straße geplant – „Grillen auf der Terrasse“, so das Etikett, „wie früher“ war hingegen der interne Tenor. „Gemeinsam“ bedeutet auf jeden Fall mit Onkel Tom, der seinen Namen der Hütte im Garten seiner Eltern verdankt, in der früher in sturmfreien Zeiten jugendlichen Übereifers die großen Feste gefeiert wurden. In der nicht wenige aus der etwas arg jugendlichen Gang („Die Anspitzer“) ihren ersten Kuss zelebrierten.

Dabei legte diese Hütte nebenbei den Grundstein für schulische Höchstleistungen. Denn wurde hier zwischen verrauchten Nebelschwaden über den Sinn des Lebens diskutiert, das Thema der großen Abschluss-Hausarbeit, die sowohl Onkel Tom als auch Reib in der zehnten Klasse in Religion eine glatte Eins bescherte – als einzigen in der gesamten Stufe. Der Rest musste nachsitzen.

„Irgendwann im Leben feiert jeder mal einen Erfolg“, hatte Reib die Situation damals recht nüchtern analysiert. Später gab es einen Lehrerwechsel in Reli, der Onkel Tom noch wichtige Punkte im Abi kosten sollte und Reib kurzerhand zum Wechsel zur evangelischen Religion zwang.

Nun sitzen beide in der alten italienischen Pizzeria „Beim Inder“, die zu Schulzeiten immer die Leerstellen des Stundenplans – ob tatsächlich vorhanden oder nicht, spielte dabei eine geringere Rolle – füllte. Deren Betreiber konnten schon damals ihr Geld nicht mit Pizza oder sonstigen Gerichten verdienen. Das dachten zumindest alle seit diesem ominösen Bestell-Anruf beim Pizzataxi-Service, als eine ebenso entsetzte wie erstaunte Stimme am anderen Ende laut in den Hörer schrie: „Was wollen Sie bestellen – ESSEN?“

Alles lange her. „Wie läuft’s denn so, Tom? Bringen Dich diese alten Erinnerungen auch immer aus dem Konzept?“

„Naja, es geht. Bin derzeit viel zu verankert in den Gedanken der Gegenwart. Und im Prinzip spielt die Gegenwart auch noch viel zu häufig hier in unserem alten, verlassenen Dorf, als dass ich dieses wirklich als Vergangenheit wahrnehmen würde.“

„Also ich war seit meinem Zivildienst nicht mehr hier essen. Das war kurz nachdem Sie ‚DM‘ auf der Karte einfach mit ‚EUR‘ überschrieben haben. Was liegt denn an, Buddy?“

„Ach, verzettel mich gerade in Gedanken, eine Beziehung müsste mal her. So blöd das klingt, ‚müsste mal her‘. Kann man ja nicht auf Knopfdruck bestellen. Da ist Pizza den Frauen mal weit voraus. Und bei Dir? Wie läuft’s mit der Neuen? Ähm, Janina, nicht wahr?“

„Erste Mini-Krise, befürchte ich.“

„Was denn, was denn, ist das traute junge Glück etwa schon …“

„Gestern ist ihr alter Hund verstorben, Tante Käthe.“

„Oje, das fängt böse an.“

„Wir wollten die alte Dame, auf Menschenleben umgerechnet immerhin 94 geworden, anständig verbuddeln. Zur Zeremonie sollte ich mich allerdings passend kleiden, Tante Käthe genoss schließlich einen guten Ruf innerhalb der Familie.“

„Ich ahne da was.“

„Ja, drei Shirts hatte ich in meiner etwas kurzsichtig gepackten Wochenend-Tasche dabei.“

„Na und? Ein Death-Metal-Shirt wird es wohl kaum gewesen sein, oder?“ Onkel Tom lacht verstohlen rüber, während einer der Inder die beiden Pizzen auftischt. Ebenfalls lächelnd.

„Das erste auf dem Stapel war jedenfalls von Element Of Crime – ‚Too Old To Die Young‘.”

„Hui, sehr unpassend, das ist wahr. Hast Du denn daran nicht gedacht, Reib?“

„Ach, zu Hause einfach die ersten drei Shirts eingepackt. Hektik am Ende, kennst das ja.“

Onkel Tom lacht ihn wieder an und zwinkert ihm mit den Augen und dem sogleich mit reichlich Pizza Diavoli gefüllten Mundwinkel zu: „‚Remain In Light‘, das wäre doch so einfach gewesen. Hast Du doch oft genug an.“

„Die Talking Heads waren wohl leider in der Wäschetonne, in der findest Du auch nichts wieder. Und stimmt, „Heaven”, wie passend – wenn auch vom Vorgängeralbum.

„Jaja, Du Nerd.”

„Jedenfalls habe ich direkt das nächste angezogen, schließlich warteten Janinas Eltern inklusiver kleiner, verweinter Cousine inzwischen auch schon etwas ungeduldiger draußen im Garten.”

„Was war es diesmal?“

„Ein altes Åström-Shirt. Eigentlich ja harmlos, dachte ich. Allerdings fiel mir hier erst später der Albumtitel auf, schön fett gedruckt: ‚So much for staying alive.‘“

„Mann, Alter, ist ja hanebüchen, was Du da verzapfst.“

Reib puhlt irgendwas Komisches aus dem Mund: „Boah, haben die hier wieder Schamhaare auf die Pizza gepackt?“ Er legt den nicht näher identifizierbaren Klumpen neben den Teller.
„Also, wo war ich? Ja, als wir dann auf der Treppe standen, konnte ich was erleben.“

„Und bist dann zurück, um schnell das dritte Shirt überzuziehen – jetzt aber Death Metal, oder?“

„Nee, wieder nicht. Ich habe diesmal extra vorne drauf geschaut: ‚Modest Mouse‘“.

„Das darf ja nun wirklich kein Problem geben.“

„Nee, erstmal lief alles glatt, Janina hatte sich nach zwei, drei Treppenstufen auch wieder gefangen.“

„Ja, und dann?“

„Kurz nachdem wir Tante Käthe dann endlich in die Grube gelegt hatten und die kleine Cousine von Janina anfing zu schluchzen, wollte sie in den Arm genommen werden. Auch von mir.“

„Wie in alten Zeiten, was? Kleiner Tröster.“

„Worauf genau willst Du hinaus?“

„Egal, ich bin zu gespannt was kommt.“

Reib schaut noch zwei Sekunden stirnrunzelnd zurück, macht dann aber weiter: „Will mal nicht so sein. Naja, als sie, was die Kleine anscheinend gerne macht, zum Huckepack auf meinem Rücken ansetzte, ging es weiter: ‚Janina? Was heißt das da?‘ Dabei zeigte sie auf meinen Rücken. Von da an wurde mir ganz schummerig.“

„Oh Mann!“

„‚We…..were dead before the ship even sank‘, antwortete Janina ab exakt dem zweiten Wort mit einem Tonfall, den man als kleiner Junge ganz gut kennt, wenn die Mama diesen wählt, damit der Papa die Bedeutung des Satzes besonders gut versteht und mal anständig zur Tat schreitet.“

Onkel Tom verschluckt sich vor Lachen an einer Peperoni: „Haha, Reib. Wie hat sie es der Kleinen denn übersetzt?“

„Keine Ahnung, da war ich bereits, sagen wir, etwas abseits vom Geschehen.“

„Verstehe.“

Reib verzieht wieder das Gesicht: „Boah, irgendwas an diesem Oregano ist doch echt komisch, kann sowas eigentlich ablaufen?“

„Oregano? Haben die hier seit Jahren nicht mehr.“

“Fear Of Music” von Talking Heads ist 1979 via Sire erschienen.

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