Nathan (XV): Außer Arbeit

 
Nathan griff zu spät nach einem Taschentuch und nieste auf die Tastatur. Das sah nicht hübsch aus. Er fühlte sich seiner Würde beraubt.

Ebenfalls wenig würdevoll erschien ihm der Gedanke an den gesamten Inhalt einer Packung Nudeln, befindlich in dem mit einem viel zu großen Deckel bedeckten Topf, von dessen Rand Wasser auf die Herdplatte tropfte, welches unter Hervorrufung eines fernab jeglichen Glamours befindlichen Geräuschs, in etwa „Britzzllllzzzlllz!“, verdampfte. Gleich würde er die Nudeln abgießen, ein Glas fertigen Pestos unterrühren und sich im Anschluss daran die Frage stellen müssen, ob es denn wirklich notwendig sei, abends um acht ein halbes Kilo Nudeln zu essen. Die Mahlzeit würde unter dem Schatten der Furcht vorm alters- und alltagsbedingtem Anwachsen des Leibesumfangs stehen, begleitet vom Ärger angesichts reflexhafter Überlegungen dieser Art. Es würde eine trotzhaft verzehrte weitere Portion und den für Ausdruck von Souveränität gehaltenen Einfall geben, sich all diese Grübelei durch die Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten, Frühstück und Mittag in etwa, zu ersparen. Was aber mit dem restlichen Abend anfangen?

Warum nicht irgendwen anrufen? Weil irgendwer daheim bei seiner Freundin sitzt und Stefan heißt oder aber zwar einen anderen Namen trägt, aber selbiges tut, wobei die Freundin hin und wieder ein Freund ist. Nathan hatte sich im Verdacht, da ein wenig zu übertreiben. Es gab sicher Leute, die ihre Zeit mit ihm verbringen wollten. Nur wollte er selbst jemanden sehen? Vielleicht nach dem nächsten Teller Nudeln, ja, dann würde er darüber nachdenken. War eigentlich noch Käse da?

Wenn er sich heute noch in Gesellschaft begab, könnte das den Konsum von Alkohol zur Folge haben, ganz bestimmt. Die schöne Idee mit dem Frühstück hätte sich damit erledigt, nein, dann doch lieber nur etwas spazieren gehen.

Nachdem er sich zu diesem Zweck mit einem weiteren Teller Nudeln gestärkt hatte, verließ Nathan die Wohnung in Richtung S-Bahn, um kurz nach Altona zu fahren und eine Flasche Sekt zu kaufen, mit der er sich dann an den Hafen setzen wollte. Dabei spielte die abwegige, vollkommen haltlose, genau deshalb aber einleuchtende These, allein genossener Alkohol sei bekömmlicher als in Gesellschaft konsumierter, eine große Rolle. Wozu wohnte er denn schließlich in einer Großstadt (groblässig und wenig sinnvoll assoziierte er das Wort mit Sekt, der war ja schließlich irgendwie mondän), und was war schon der Zweck des Hafens, wenn man sich nicht zu ihm begibt und melancholisch all seine hübschen Lichter betrachtet? Nur zum Arbeiten kann er ja wohl kaum da sein, dieser Hafen.

Zum Zwecke seiner Bewunderung bietet sich ein Aufenthalt im „Park Fiction“ an, einer kleinen Freifläche oberhalb der Elbe mit Palmen aus Metall. „Sekt unter Palmen aus Metall, während ihm zu Füßen der Golden Pudel Club am Wasser liegt“, das ist zu verlockend und wäre als Satz, der keinen realen Ort benennt, gar nicht mal so übel, fand Nathan und sah darin eine Bestätigung seines Vorhabens. Ihm war reichlich elend zumute.

In einer Seitenstraße der Reeperbahn wollten ihm drei halbstarke Kleinkriminelle den Erwerb von Kokain oder wenigstens doch bitte Speed ermöglichen. Als er dankend ablehnte, folgten kryptische Drohungen („Du redest wie mein Deutschlehrer!“), die ihn zum Aushändigen seines MP3-Players bewegen sollten. Nathan hatte, wie er fand, nichts zu befürchten. Was sollte ihm schon geschehen, er wollte allein eine Flasche Sekt trinken, und das an einem Ort, an dem sich die Jugend der Stadt zu treffen pflegte. Es konnte gar nicht mehr schlimmer kommen. Lag es an seiner in ihrer Stärke sicherlich spürbaren, von Trauer erfüllten Gleichgültigkeit gegenüber jeglichem Schicksal, der Kraft seiner Ratlosigkeit, die ihn gegen jegliche Unbill feite, als die jungen Herren unverrichteter Dinge abzogen? Oder waren es die Scharen potentieller Zeugen, die zum „Park Fiction“ Strömenden mit ihrem geselligen Geplapper? Vollkommen egal, fand Nathan, er stapfte weiter, nahm Platz, öffnete den Sekt und befand den ersten Schluck für widerlich.

Er schmeckte nun einmal ü-ber-haupt nicht, und der Pudel hatte noch nicht auf, fiel ihm ein. Wollte er denn in den Pudel gehen? Hatte er das vorgehabt? Wenn er nun schon einmal hier war … aber vor ein Uhr war dort noch nichts los, auch nicht unter der Woche. Er würde also warten müssen, obwohl er ja weder ausgehen wollte noch musste, sich ja aber – wie kam das eigentlich? – nun auf einmal an Ort und Stelle wiederfand, mit einer Flasche Sekt, das legt doch ein wenig Tanzerei nahe. Ihm gegenüber blinkten die ersten Lichter oberhalb der widerlichen großen Reklame an den riesigen Docks, die dusselige Menschen gerne gut finden, weil darin ja hin und wieder obszön riesige Kreuzfahrtschiffe repariert werden … was für ein Schwachsinn. Es tutet, und sie kommen angelaufen, um die langsamen Bewegungen eines großen Kastens mit dunklen Nischen auf einem Gewässer ohne Wellen zu, na, was, bewundern? Auch jetzt erklang hin und wieder ein geschmacklos lautes Tröten von links, und einige der Grüppchen um ihn johlten tatsächlich.

Deshalb war er doch nicht hier. Was sollte er also wollen, wenn nicht gleich noch etwas Musik hören? Es war ja ansonsten gar nicht auszuhalten, hier, am Rande dieser zertretenen Grünfläche mit albernen Wellen und hässlichen Palmen obendrauf, aus Metall, ausgerechnet Metall.

Der zweite Schluck war besser, nur etwas zu kribbelig, außerdem schäumte das Zeug zu stark. Aber es schmeckte auf einmal doch ganz gut, und unten, da fuhr ein lustiges Partyboot mit Wimpeln vorbei. Von ihm schollen die plumpen Wellen eines dumpfen Beats herüber, das besaß womöglich symbolischen Charakter hinsichtlich seiner Situation. Wichtig war nur, und der nächste Schluck sank hinab in einen langsam von Vorfreude erfüllten Nathan, den Ereignissen zuvorzukommen, ohne sie vorwegzunehmen. Was auch immer das bedeuten mochte.

„Ebba” von JaKönigJa erschien 2005 via Buback.

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