Merchandise: Im Verlangen gefangen


„Children Of Desire“, das zweite Album des Noisepop-Trios Merchandise aus Tampa im vermeintlich gutgelaunten Florida, ist mehr als nur eine LP.

In seiner Verpackung steckt – abgesehen von der Vinylscheibe natürlich – ein Heft. Es ist ein bisschen zu schmal, ein bisschen zu hoch, um der DIN-A5-Norm zu entsprechen. Der Farbkontrast zum Hellgrau des bleistiftbemalten LP-Covers und der Titel des tiefschwarzen, nur durch emporgehobene Hohlprägung mit „Desire In The Mouth Of Dogs“ beschrifteten Deckblattes lassen es wie einen wichtigen Begleiter wirken.

Die Informationen, die ansonsten ein Booklet liefert – wann und wo Carson Cox und David Vassalotti erneut ein Album im mühselig-langwierigen Alleingang heimproduzierten, dass sie mit Bassist Patrick Brady zum Trio anwuchsen, wie die Texte lauten – finden sich darin nicht. Nicht direkt. Vielmehr enthält es in Druckschrift die Tagebucheinträge eines B. Marchese, sporadisch verteilt über den Zeitraum vom 05.11. bis 30.12.2011. Ihr Protagonist beginnt mit der Suche nach Erkenntnis, stürzt über ein Hadern mit Altern, Liebe und Albträumen in eine Depression – klassisches Jugendroman-Material, doch fällt bald auf, dass es nicht nur zwischen gedrucktem Text und den Lyrics der Songs Überschneidungen gibt.

Wo Merchandise auf ihrem hervorragenden Debüt „Strange Songs (In The Dark)“ noch ein gutes Stück an No Age erinnerten und uns Anfang des Jahres die bloße Verortung in ihrer lokalen Punk/Hardcore-Szene entlockten, wirkt es, als hätten sie auf „Children Of Desire“ ihre ganz eigene Essenz herauskristallisiert. Noise und Pop halten sich die Balance, Sänger Carson Cox‘ süß-labil hingehauchte Gesangszeile wird in „In Nightmare Room“ von einer wüst handperkussierten Metallwelle hinweggefegt. „Satellite“ hingegen ist gitarren- und maschinentrommelfrei, sanft von Piano getragener und von einem Mantel aus Synth und Streicher umgebener Hallgesang. „Time“ ist als erster kompletter Song des Albums betörender Pop, trügerisch kompakt und shoegazig, doch gleich das nächste Stück ist der spröde, postpunkige Elfminüter „Become What You Are“, dessen anfängliche Zweiteilung erst mit mehrmaligem Hören als weitreichendes Ganzes stimmig erscheint.

Leicht kann bei der bloßen Stilbeschreibung wenig affektierender Musik vergessen werden, dass Klang bestenfalls als Ausdruck der Gedanken und Emotionen seiner Erschaffenden fungiert. Aber gerade in Verbindung mit seinem Textbegleiter besitzt dieses Album Ausdruckskraft en masse. Sein desorientierendes Gitarrenmeer suggeriert, wie Marchese hilflos im eigenen Kranium mit seinen kreisenden Gedanken gefangen ist, ein Stück und Buchkapitel später, wie er in Aggression umschwingt. Schlüsselphrasen, die man liest, tauchen Sekunden später in der Musik auf; „there is music happening all around“, „never escape my mind“, „we’re still young“, „time is music“ und mehr. Beide „Desire“-Werke offerieren Haken, an denen man sie mit Fäden verknüpfen kann (nicht muss), jedoch weder eine Anleitung noch eine lückenlose Narrative oder gar klare Antworten.

Am Ende des Jahres 2011 hat unser Protagonist das Schlimmste überstanden – vorerst zumindest. Er ist sich verschiedener Formen von Verlangen bewusst – nach Wissen, Geld, Sex – doch nicht schlauer darüber, ob er es mit der Zeit erfüllen oder sich ihm entledigen wird. Indes, der Schlusssatz seiner Niederschrift ist der gleiche wie im auf Musikebene völlig befriedigenden Albumcoda „Roser Park“, bevor dieses sich erst zur noisigen Nebelwolke verdichtet und dann langsam zerstiebt: „I wanna dance with my baby. She’s the only one that I ever loved.“

„Children Of Desire“ ist bei Katorga Works erschienen, wo es das Album auch zum freien Download gibt.

8 Kommentare zu “Merchandise: Im Verlangen gefangen”

  1. Pascal Weiß sagt:

    Wieder einmal: Super Tipp!

  2. Phil sagt:

    Vielen Dank für diesen Tipp!
    Erinnert mich irgendwie ein wenig an Morrissey (Gesang, Melodieführung), sehr schön!

  3. Saihttam sagt:

    Wisst ihr, ob das Textheft auch der CD-Fassung beiliegt, die man beispielsweise über amazon bekommt?

  4. Vermuten würde ich mal nein – hab gelesen, das wäre ein Digipak und die Schrift im Heft ist so klein, dass sie mit einfachem Verkleinern der Heftseiten auf CD-Booklet-Größe unleserlich werden dürfte. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die neuen Vinyl-Pressungen auch noch das Heft beinhalten.

    Wenn du das bei einem Mailorder kaufst (Flight 13 oder Greenhell haben die CD beispielsweise), kann man dir aber dort vorher vielleicht genaue Auskunft geben.

  5. Pascal Weiß sagt:

    Ich habe mir im Dezember die Vinyl-LP gekauft. Das war bereits die neue Pressung und dort lag das Textheft noch bei. Was die CD-Version betrifft, vermute ich aber genau wie Uli, dass es dort fehlen wird.

  6. Saihttam sagt:

    Danke für eure schnelle Antwort. Ich werde dann wohl mal per e-mail danach fragen, wie es Uli vorgeschlagen hat.

  7. Phil sagt:

    Es wäre nett, wenn du berichten könntest, was dazu gesagt wurde. Interessiere mich auch dafür :)

  8. […] „Children Of Desire“ in diversen Jahresbestenlisten innerhalb der Redaktion und folglich später auch in unserer […]

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