Nathan (XIII): Das unwahrscheinliche Lamm


Gast zu sein fiel Nathan schwer, obwohl er es genoss, wenn andere für ihn kochten. Der Gedanke an all die kleinen Arbeiten und Zuwendungen, aus denen eine gut vorbereitete Mahlzeit besteht, schmeichelte und behagte ihm sehr. Dazu noch wandten beinahe sämtliche seiner Freunde und Bekannten bei der Zubereitung der Speisen Fertigkeiten an, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie nicht besaß. Und schließlich gefielen ihm selbst einfache Gerichte, er erwartete nie Besonderes und war ebenso genügsam wie dankbar.

Eine Sache störte ihn allerdings: bevor etwas geschmeckt werden konnte, musste es zum Mund geführt und dort zerkaut werden. Während beider Vorgänge, der Bewegung der Nahrung und ihrer Zerkleinerung, konnte viel geschehen. Dessen war sich Nathan nur zu gut bewusst, die zahlreichen Variationen an sich nichtiger Missgeschicke waren ihm bis zur Manie vertraut.

Sah er einen beladenen Teller, eine gefüllte Schüssel oder ein auch nur den Brotkorb vor sich, versuchte er, die Konsistenz der Gerichte zu erahnen. So hoffte er, sich auf das Unweigerliche vorbereiten zu können, damit ihn das Kleckern, Krümeln, Bröseln, Schwappen, Tropfen, Plumpsen, machmal sogar Springen der Lebensmittel nicht mehr zu erschrecken vermochte. Dadurch wurde er unsicher in der Handhabung des Besteckes. Übervorsichtig und unkonzentriert musste er mit ansehen, wie das Befürchtete sich stets in anderer als der vorhergesehenen Gestalt ereignete.

Dementsprechend angespannt probierte er, ein Stück Lamm zu zerlegen und hörte deswegen nicht, wie Nadine ihren Freund fragte: „Ihr wart neulich recht lange aus, oder? Und wie Du gerochen hast, wie eine ganze Kneipe.“

Stefan gab sich Mühe, das Thema schnell abzuschließen. Im häuslichen Rahmen mochte er nicht gerne über seine oft bierseligen Abende mit Nathan, zu denen Nadine selbst nie mitkam, reden. Sie zog diesen, ganz ohne Ressentiments, lieber den gepflegten Umgang, die Gastlichkeit eines Mahles mit mehreren Gängen und eigens dazu ausgewählten Getränken vor. Kneipen waren ihr vor allem wegen des Geruchs zuwider.

Sie und auch Stefan störte es nicht weiter, wenn viele ihrer Bekannten das befremdlich fanden und nur von der Existenz Nadines wussten, ihr aber nie begegnet waren. Entweder die Freundschaft bestand schon, bevor er sie kennen gelernt hatte oder es ergab sich durch eine Einladung. Kam diese nicht zustande, so hatte es Gründe. Er schätzte seine von Nadine fast immer ohne Murren gewährten Freiheiten zu sehr, als dass er sie durch eine zwanghafte Vermengung beider Bereiche, des „Ausgehens“ und der „Einkehr“, wie er sie bei sich nannte, hätte beschränken wollen.

„Oh, ja, das wurde recht lang … Nathan, weißt Du, dass sie jedes Mal, wenn ich aus war, meine Sachen gleich am nächsten Tag wäscht und ich nicht ungeduscht ins Bett darf?“

„Wie? Ich würde das verlangen? Das wüsste ich aber … das Duschen habe ich aber gehört und mich gewundert.“

„Na, siehst Du. So fürsorglich bin ich. Selbst die Erfüllung unausgesprochener Wünsche wird mir zum dringendsten Bedürfnis, wenn ich an Dein zartes Näschen denke.“

„Ja, falls es Dir einen Vorwand bietet, mich zu verspotten, dann scheust Du keine Mühe und nächtliche Belästigung … zartes Näschen, pah!“

Gelächter, wie schön. Nathan blickte zerstreut von seinem Lamm auf, schließlich ist ein tändelndes Pärchen ein erfreulicher Anblick, auch, wenn er nicht mitbekommen hatte, weshalb hier gekichert wurde.

„Weißt Du was, Nathan? Ich habe, als ich neulich nach Hause wankte“ – Nadine blickte Stefan spöttisch an – „ähem, lief, langsam und vorsichtig, ich lief also eine ganze Weile, noch ein wenig über unser Gespräch nachgedacht. Du schienst ein wenig unzufrieden zu sein, oder?“

„Mhm.“ Mist. Das Lamm rutschte unter der Gabel weg, obwohl das bei so weichem Fleisch unmöglich sein sollte. Nein, es war sogar wirklich unmöglich. „Äh … ja, kann sein. Naja, ist man denn irgendwann mal zufrieden?“ Verdammtes Lamm.

„Nein, das ist ja kein Ziel, eher eine Richtung auf ein Ziel hin. Und da gibt es doch zumindest ein ’näher‘ oder ‚ferner‘.“

Pieks. Jetzt steckte es auf dem Zinken, dieses Stück von einem Lamm. Seltsam.

„Okay … und um auf so etwas zu kommen, musst Du erst von mir in Kneipen bugsiert werden? So betrunken kamst Du mir gar nicht vor.“

„Wir sollten uns vielleicht öfter nüchtern sehen, dann wäre es Dir mehr aufgefallen.“

Wieder Gelächter. Wieder schön. Diese Mal lachte Nathan mit, worauf ihm ein Bröckchen Lammfleisch aus dem Mund fiel. Nadine schien es nicht bemerkt zu haben, als sie sagte: „Aber Nathan, Stefan hat recht, so richtig glücklich wirkst Du nicht. Du hast ja keine Verpflichtungen. Vielleicht solltest Du einfach mal eine Zeit woanders leben, so lange es noch geht, das täte doch jedem gut.“

„Mhm … das Lamm ist übrigens sehr gut. Und wegziehen … ja, warum nicht?“

„Ja, warum nicht etwas ändern? Und manchmal muss man eben vielleicht das Setting verändern, um an das Set heranzukommen, so wie bei LSD und Leary, und dann eben Metaprogrammierung, bloß ganz ohne Drogen, das wäre doch etwas, nicht?“

Nathan war es unangenehm, wenn Stefan auch nur andeutungsweise auf die gemeinsamen Drogenexperimente zurückkam. Das hatte etwas von dem Versuch, sich betont jugendlich zu geben. Sollte er irgendwann Kinder haben, würden sie sich einiges anhören können. Ob Nadine jemals Drogen genommen hatte?

Höflich, aber bestimmt entgegnete er deshalb: „Stefan, nein, das hat gar nichts mit LSD zu tun, gar nichts, das ist etwas anderes, die Reihenfolge ist anders. Das ist ja aber auch egal.“

Nadine lächelte. „Was bin ich froh, dass Du keine Ahnung von solchen Sachen hast, Stefan. Aber Nathan, es stimmt schon, man kann ab und zu doch mal was anderes machen, man muss, das Leben wartet nicht auf Dich mit den Veränderungen … Manche Leute haben in unserem Alter schon Kinder“, schloss sie verträumt.

Stefan merkte auf. Sie blickte ihn fest und ruhig an, er wandte sich rasch an Nathan. „Ja, auch das kann ja noch einmal passieren, und dann wirst Du für einige Jahre an denselben Ort gebunden sein, oder stell Dir mal vor, eine Trennung, und dann der Unterhalt und die Notwendigkeit, immer in der Nähe des Kindes zu leben …“ Das waren laute Überlegungen, schnell wieder wechseln. „Ja, und das Alter, kommt ja so oder so … warum nicht langsam auch mal Gedanken darüber machen, was in 20 Jahren sein wird, nicht, oder zumindest, was sein könnte, oder?“

„Stimmt, das könnte man“, gab Nathan zu.

Nadine aber fragte aufmerksam: „Und was ist das bei Dir, Stefan?“

„Das kann ich Dir erst sagen, wenn Nathan uns verlassen hat, das wäre mir jetzt doch ein wenig riskant … Du würdest roten Kopfes den Raum verlassen wollen ….“

Lachen. Wenn schon mit dem Alter die Zoten kamen, dann wenigstens so.

„Und Du, Nathan, was willst Du in 20 Jahren machen?“

„Mal überlegen … ich glaube, ich möchte berauscht in der Wanne liegen und mir traurige, schwelgerische Lieder vorsingen lassen.“

„Ach, komm“, Stefan lachte, „als ob Du nicht jetzt schon berauscht genug wärest.“

„Mag sein. Aber ich liege dabei zu selten in der Wanne.“

„Meat Is Murder” von The Smiths erschien 1985 via Rough Trade.

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