Der Liedschatten (61): So wie einst Roy Black

David Garrick: “Dear Mrs. Applebee”, März 1967
Der Liedschatten befindet sich mittlerweile im Jahr 1967. In ihm erschienen zahlreiche herausragende Alben*. Warum nur?
Folgende Antworten wären möglich:
a.) Es erscheint ständig eine Menge Musik. Viel davon ist gut. Ist einfach so.
b.) Damals veröffentlichten weniger Bands als heute weniger Aufnahmen. Und nur das Gute wurde uns überliefert, deshalb wiederum erneut weniger als aus späteren Jahren, relativ gesehen aber eben mehr Gutes. Und auf einmal wirkt das ganze Jahr gut.
c.) Damals gab es noch Sensationen, wirkliche oder glaubhaft gemachte. Einige Sounds, Ideen und Inhalten tauchten das erste Mal auf. Und solche Musik wirkt einfach länger.
d.) Einfach vorne und hinten was ab, und dann soll das irgendwas erklären? Ein Jahr? Hallo? Woanders haben die nicht mal so toll gerecht geteilte Jahreszeiten (jede darf mal drei Monate) wie hier, denkt da mal drüber nach!
e.) Der Kanon dies, der Kanon das … ist ja nur ein Kanon. Willkür und Plattenverkäufe, tatsächliche oder nicht erfolgte.
f.) Gesellschaftliche Veränderungen treffen mit technischen Neuerungen zusammen, da entsteht gute Musik.
g.) Irgendeine hippieeske, irrationale, vielleicht sogar esoterische Begründung, z.B. „Vibes“.
h.) Musik verkaufte sich, anders als in der neophoben Gegenwart, vor allem dann gut, wenn sie neuartig war. Also wurde der Versuch unternommen, möglichst viel von ihr zu verkaufen, indem nach dem Prinzip „trial and error“ alles veröffentlicht wurde, was Aufsehen versprach.
i.) Die tun was ins Trinkwasser …
j.) Platz für eigene Vorschläge:
Sogar der Blick auf die Singlecharts der BRD des Jahres 1967 verspricht Amüsement. Dort tauchen unter anderem auf: The Kinks, The Monkees, The Beatles, The Rolling Stones und Procul Harum. Zwischendrin aber begegnet uns, sozusagen als Ausnahmeerscheinung, David Garricks Interpretation des Stückes „Dear Mrs. Applebee“.
Ein Revival des Rüschenhemdes steht übrigens noch aus.
Musikalisch macht es sich gar nicht mal schlecht, ist zumindest sehr solide und sogar sinnig, weckt das Banjo doch Erinnerungen an den in England einst sehr populären Skiffle. Und der führte Ende der 50er Jahre dazu, dass sich in Liverpool, der Heimatstadt Garricks, eine Gruppe namens „The Quarrymen“ bildete, aus denen schließlich die Beatles hervorgingen. Deshalb kann in dem Banjo gerne eine Bezugnahme auf die britische Popgeschichte gesehen werden, auch dann, wenn es sich bei diesem einfach um ein Überbleibsel der Originalversion der amerikanischen Band „Flip Cartridge“ handeln dürfte.
Bleiben wir aber einfach bei der Theorie, das Banjo zitiere ein wichtiges Element der Geschichte britischen Pops. Diese wurde ja nicht nur durch Skiffle, R’n’B, Folk und Rock’n’Roll geprägt, sondern zum Beispiel auch die Tradition der Music Halls.
Und auch deren Elemente finden sich in „Dear Mrs. Applebee“ wieder, zum Einen in den verwendeten Instrumenten, zum Anderen der Erzählung. Was wenig schlüssig ist, sind die Autoren des Stückes doch amerikanisch. Aber beharren wir dennoch wissentlich im Irrtum, stellen wir das Stück in die Tradition britischer Unterhaltungsmusik.
Dank unseres Wagemutes fügt sich alles noch viel wunderhübscher zusammen, schon wieder wird der Bogen zur Person Garricks geschlagen. Schließlich ließ der sich zwei Jahre in Milan zum Opernsänger ausbilden und trägt in „Dear Mrs. Applebee“ einen Text vor, der in keiner Operette oder der Revue einer Music Hall negativ auffallen dürfte.
Wir haben hier also einen jungen Mann mit klassischer Gesangsausbildung, der aus Liverpool stammt, obendrein noch laut Legende im Cavern Club durch den Vortrag einer Arie vom Manager der Kinks entdeckt wurde und nun zu wenig fordernder Musik einen Text wie diesen hier vorträgt:
„Misses Applebee, you told Marie she couldn’t go with me / because you heard that I was bad. / Misses Applebee, please hear my plea. / Don’t you know that anyone can change, / Misses Applebee? / And for Marie I’d even swim the sea […]“
In Großbritannien schaffte er es damit nur bis Platz 22 der Charts, in der BRD reichte es immerhin für zwei Wochen an der Spitze der Hitparade. Vielleicht wurde dort aufgrund fehlender Kenntnis des Englischen weniger auf den Text geachtet, was aus Sicht Garricks und seiner Produzenten schade ist. Immerhin dürfte es genügend Menschen gegeben haben, die Gefallen am würdelosen Flehen eines ehemaligen Halbstarken gefunden hätten, der letztendlich einsehen musste: Aufbegehren bringt nichts.
Wie wenig das im Rahmen der Popmusik stimmt, sollte sich erst in den nächsten Jahrzehnten zeigen. Noch war der Glaube an die verkaufsfördernde Kraft des vermeintlich Guten und Reinen in Form des Biederen groß genug, um einen Fan des Rock’n’Roll wie Roy Black über Nacht vom Heiraten singen zu lassen, die Idee einer verbindlichen, fraglos elterlichen Moral intakt.
Gegen keine andere als diese wird der Protagonist in Garricks Hit verstoßen haben. Warum aber schert er sich nun um die Meinung der Mutter, wenn er an die Tochter gelangen möchte? Wird sie etwa unter Verschluss gehalten? Oder hat er sehr, sehr ernste (siehe Roy Black) Absichten?
Wir werden es nicht erfahren, und für das Lied selbst ist seine Motivation auch nicht weiter von Belang, es zählt einzig die Geste. Ein Sünder bereut und gelobt Umkehr, denn auch er sieht nun ein, was selbst ein ordentlicher junger Mensch wie Thomas Fritsch (Jahrgang 1944) erst lernen musste, nämlich: „Es ist gar nicht so leicht, erwachsen zu sein.“
Im Jahre 1967 erhob auch das knuffige Antlitz der Reaktion ihr wuscheliges Haupt.
Dabei ist die Hoffnung oder Furcht, jugendlicher Eigensinn würde die öffentliche Ordnung gefährden, natürlich leider Dummfug. Die bestehende Gesellschaft wurde und wird nicht durch den Erwerb von Kleidungsstücken und Tonträgern, das Sprechen irgendwelcher Slangs und vorehelichem Sex bedroht, selbst nicht durch das Stellen unbequemer Fragen. Das verkraftet sie, sogar sehr gut, und dessen war sich auch das Establishment bewusst, als man den Beatles einen Orden für deren Beitrag zur britischen Exportbilanz verlieh.
So weit brachte es Garrick mit seinem einen Hit in der BRD nicht. Zwar wurde nichts unterlassen, um diesem weitere folgen zu lassen, doch selbst ein Lied wie „Rüdelsheim Liegt Nicht An Der Themse“ mit seinen prägnanten Zeilen „An den Rhein, an den Rhein / da gibt’s Mädchen, da gibt’s Wein / doch bei mir, doch bei mir / in old England trinkt man Bier / doch nicht nur, doch nicht nur / nein, man trinkt auch Whiskey pur / anstatt Wein, wie in Rüdelsheim am Rhein.“ wurde kein Erfolg. Was wenig verständlich ist, heißt es doch später sogar noch: „An den Rhein, an den Rhein / da gibt’s Mädchen, da gibt’s Wein / weit und breit, weit und breit / Frohsinn und Gemütlichkeit / jeder Kuss, jeder Kuss / ist ein himmlischer Genuss / wenn man Wein trinkt im Rüdelsheim am Rhein“, und das im ¾-Takt. Nein, Garrick durfte nicht am deutschen Wesen genesen, zog sich schließlich für lange Zeit aus dem Musikgeschäft zurück und trat erst gegen Ende der 80er mit seinem alten Material auf. Anscheinend tourt er noch immer, vielleicht, um Rache an denen zu nehmen, die ihm keinen glamouröseren Lebensabend bescherten. Und die? Machen ihm wieder einen Strich durch die Rechnung und freuen sich darüber.
Die Welt ist schlecht und alles ist furchtbar: Bono in den Händen eines unfähigen Stylisten.
*z.B.: „Chelsea Girl“ (Nico), „The Velvet Underground & Nico“, „Forever Changes“ (Love), „Axis: Bold As Love“ sowie „Are You Experienced“ (beide Hendrix), „John Wesley Harding“ (Bob Dylan), „Younger Than Yesterday“ (The Byrds), „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ und „Magical Mystery Tour“, „The Piper At The Gates Of Dawn“ (Pink Floyd), „Smiley Smile“ und „Wild Honey“ (The Beach Boys), „Something Else By The Kinks“ (The Kinks), „Easter Everywhere“ (The 13th Floor Elevators), „The Who Sell Out“ (The Who), „Mr. Fantasy“ (Traffic), „Comic Strip“ (Serge Gainsbourg), „Songs Of Leonard Cohen“, „Walk Away Renee / Pretty Ballerina“ (The Left Banke), „Lee Hazlewood-ism: Its Cause And Cure“ (Lee Hazlewood), „Surrealistic Pillow“ (Jefferson Airplane), „King And Queen“ (Otis And Carla).
[…] offensichtlichen, ja anbiedernden Charakters höchst kurios, man denke nur an David Garrick (“Mrs. Applebee”) und sein „Rüdesheim Liegt Nicht An Der Themse“, das auf den leicht obskuren, aber […]