Nathan (XII): Selbst Hilfe ist Selbsthilfe

„Und? Wie war die Probe?“
„Die Probe?“
„Na, Stefan sagte, ihr würdet jetzt Musik machen.“
Also hatte er es entgegen dem Nathan geleisteten Versprechen erzählt. Nicht nur, dass sie es überhaupt versucht hatten, dass er, Nathan, es hatte versuchen müssen, Stefan hatte auch noch gequasselt. Und nun wollte Lisa doch tatsächlich wissen, wie es war.
„Ach, Probe … Probe, naja, sehr kurz war sie. Wir brauchen einfach nicht so lang zu üben. Nicht so lange, gar nicht lange, eine Probe reicht. Zumindest mir reicht eine.“
„Oh. Also wird das wohl nichts mit der Band … und ich hatte mir schon vorgestellt, wie Du und er auf einer Bühne steht und vorne die Leute und ich winke Dir zu …“
„Klar. Das wäre wohl was gewesen. Schöne Vorstellung.“ Der sarkastische Ton bezog sich auf das Stehen auf einer Bühne, nicht darauf, dass Lisa ihm zuwinken würde. So hatte sie es aber nicht verstanden.
‚Verdammt‘, dachte Nathan, ‚Warum gibt es keine Fußnoten in Gesprächen? Oder Kommentare? Jetzt denkt sie noch, dass …‘
Und sie dachte es und sprach: „Na, dann winke ich Dir eben nicht zu, wenn Du darauf verzichten willst. Dabei hätte das so gut gepasst mit dem Dasein als Musiker, die Allüren hast Du ja schon.“
„Ach, das war doch nicht so gemeint. Du kannst, naja, also, wenn Du mir zuwinkst, zuwinken würdest, dann würde ich mich schon freuen, ich meine …“
Lisa schmollte weiter: „Genau. Und es wird Dich halt eben doch nicht freuen, weil ich mich hüten werde, Dir irgendwie zuzuwinken.“
Das war, Nathan bemerkte es nicht, nichtsdestotrotz ein Wink. ‚Immerhin könnte er nun ruhig mal anmerken, das ihn meine fehlende Aufmerksamkeit traurig macht.‘, so gingen Lisas Gedanken. Dann wäre alles in Ordnung gewesen, für sie auf jeden Fall. Ein wenig zumindest.
Nathan aber sagte gar nichts, er dachte an den Abend, die Probe und den seltsamen Heimweg; eine Geschichte, die er aber lieber für sich behalten wollte, als anrüchiges, aber malerisches Kleinod. Vielleicht war sie ihm auch peinlich, und zwar weil er ihr nachhing, sie nicht abtun konnte und dadurch merkte, wie unangenehm er sich selbst manchmal war.
Nach der versuchten Probe stieg er an der Reeperbahn aus der S-Bahn. Der Kopf würde, so hoffte er, ein wenig klarer werden, der kleine Rausch eher verfliegen, wenn er den restlichen Heimweg zu Fuß zurücklegte.
Ein Stück vor sich sah er einen Menschen gehen, anhalten und sich an die Wand lehnen. Es handelte sich dabei um eine junge Frau, und sie schien eventuell Hilfe zu benötigen, weshalb es Nathan ratsam schien, solche anzubieten. Das war weitaus angenehmer als sich über die Unfähigkeit zum Musizieren zu grämen, es konnte etwas getan werden, etwas, das weitaus sinnvoller, notwendiger, passender erschien.
Und obwohl es doch nicht so schlimm wie gedacht um sie stand, ließ sich die junge Frau auf sein Angebot hin helfen, hakte sich ein, stützte sich auf und lehnte sich an. Erst mit dem Arm, dann mit den ganzen Körper. Das war für beide Seiten angenehm, nur kam Nathan der Verdacht, es habe, was ihn anbelangt, andere Gründe als die Erfüllung des Wunsches, hilfsbereit zu sein. Er begleitete sie bis zu ihrer Haustür in der Schanze, wo sie sich lange umarmten, wobei sie ihn fragte, ob er denn jetzt auch gut nach Hause kommen würde. Klar würde er das. Sie fragte noch einmal. Ja, würde er schon. Er solle schwören. Das, so erwiderte er, könne er nicht, worauf sie ihn wieder in den Arm nahm.
Sie war also betrunken und anhänglich. Vielleicht auch, er erschrak ein wenig, nur ein wenig betrunken, aber anhänglich, und er könnte, vielleicht, sich auf einen Tee einladen lassen, dachte er. Er erschrak wieder. Das wäre ja wohl kaum ehrenhaft, sie ist doch auf jeden Fall berauscht, das war klar, und diese Situation … nein, ausnutzen darf man das nicht, nicht bei Unbekannten. Halt, bei Bekannten auch nicht.
Allerdings hörte sie nicht auf, zu fragen, ob er denn auch gut heimkomme … sie schien nicht daran zu glauben. Am Ende hatte sie auch nur ein schlechtes Gewissen, weil sie seine Hilfe in Anspruch genommen hatte, wegen eines möglichen Umweges … oder aber war interessiert an, naja, daran, Zeit zu verbringen, noch ein wenig. Es könnte natürlich auch der Rausch sein, der regt ja an, sich Menschen zu nähern. Während sie ihn noch immer im Arm hielt, suchte er einen geeigneten Satz, um irgendein Ergebnis herbeizuführen – nein, kein Ergebnis. Wie die Situation weiterentwickeln? Nein, nicht entwickeln. Lösen, so ist das, und nein, er kam sich dabei nicht gut vor. Ein wenig schäbig, aber auch geschmeichelt, von all dem, dem zufälligen Zusammentreffen, gemeinsamen Gehen, den Umarmungen, ohne auch nur Namen auszutauschen, Nähe ohne eine jede Vertrautheit, aus der am Ende noch Verbindlichkeit erwachsen könnte.
All das animierte ihn zu Gedanken, denen er nicht weiter folgen wollte. Nein, es sollte so wie bei den Vampiren sein, entschied er. Die müssen eingeladen werden, und dann wissen die Leute auch, wie ruchbar und gefährlich das ist. Und wenn nicht, dann können sie, konnte er halt nicht in ihre Wohnung. Vielleicht fand sie es ja auch gefährlich, einen Fremden mit in die Wohnung zu nehmen, betrunken, am Ende auch nicht. Aber dann sollte sie es eben, es wäre doch verständlich, nicht falsch … nein, es war ihre Sache.
Noch einmal fragte sie mit recht eindringlichem Blick, ob er denn auch ja gut nach Hause komme. Der Zweifel daran bezog sich, vermutete Nathan schließlich, eher darauf, ob er überhaupt nach Hause kommen würde.
Später ging er, etwas zögerlich, aber wissend, dass dieses Zögern nur ein dramaturgisches war, einfach auf dem basierte, was geschehen war, nein, noch hätte geschehen können, denn er lief ja schon, ging nach Hause. Und wenn er wollte, dann konnte er ihr ja immer noch eine Postkarte in den Briefkasten werfen, morgen, oder nächste Woche.
„Öhem … nein, da wirst Du mir nicht zuwinken können. Ich wäre eh ein schlechter Rockstar.“
„Ja, Dir fehlt nämlich jeglicher Charme. Und Geistesgegenwart, die besitzt Du auch nicht. Mit Dir ist man manchmal eher in Gegenwart eines Geistes. Ich muss jetzt los, mach’s gut.“
Irgendwie war manchmal alles doof.
“Life Is Full Of Possibilities” von Dntel erschien 2001 via Plug Research erschienen.