Buchempfehlung: testcard #21: Überleben.

„testcard. Beiträge zur Popgeschichte“, das erinnert stark an „Spex – Magazin für Popkultur“. Gemeinsam haben beide allerdings kaum etwas. Und das ist höchst erfreulich.

In Editorial der „Spex“ ließ sich nämlich, zumindest, solange es von Max Dax verfasst wurde, auch schon einmal eine Produktempfehlungsliste wie diese hier finden: „Er ging in die Küche, drehte endlos an seinem iPod […] nur die ihm liebsten Dinge nahm er mit: ein Scopa-Kartenspiel der Marke Dal Negro; die Autobiografie Claude Lanzmanns; einen zweiten Anzug, identisch mit dem dunkelblauen Nadelstreifenanzug von Dior Homme, […] eine aufklappbare Landkarte der Insel Korsika; zwei Flaschen preiswerten Champagners; seinen Glücksstein; einen Stapel Erinnerungsfotos; das „Buch der Unruhe“ von Pessoa; ein Moleskine-Notizbuch im Format DIN-A 5 (unliniert); drei Stabilo-Stifte, schwarz.“. Immerhin fehlt der Name des Perlweins. Ist ja auch ein billiger.

„Warum tut er das?“, fragt ihr euch, und das vollkommen zu Recht. Wundert Euch aber nicht zu sehr, auf der Homepage des Magazins wurde auch schon kritiklos ein Selbstdisziplinierungswettberwerb wie die beschissene „#hh_wg“ beworben. War die „Spex“ nicht so ein bisschen kritisch, links? Oder intellektuell? Vielleicht auch irgendwie postmodern? Am Ende gar Avantgarde?

Oder habt ihr euch ein wenig weiter oben nur gewundert, dass an solch einer Aufzählung Anstoß genommen wird? Ist so etwas nicht vollkommen egal, schließlich geht es doch nur um Kunst, Musik, Literatur, all so was, und so ein Text ist ja auch Kunst? Am Ende möchte man eh nur auf dem Laufenden bleiben, ich solle mich mal nicht so haben?

„Die klassische Popkultur lebte im und aus dem Überfluss. Junge schöne Menschen führten vor, dass das Leben intensiver, cooler, freier, glamouröser sein kann als der bürgerliche Trott“, so steht es im Vorwort zur aktuellen Ausgabe der „testcard“ mit dem Titel „Überleben – Pop und Antipop in Zeiten des Weniger“. Und daran erinnert doch sehr, was die Spex betreibt, zumindest unter anderen. Schließlich ist sie ja kein ausschließliches Sammelsurium albernen Lifestylekrams wie im obigen Text.

Dessen Protagonist „V2 Schneider“, ein Alterego von Dax, ist nach einem Song David Bowies Song benannt. So ist das nun mal bei den hippen Kreativen, so etwas machen sie, können sie machen. Und so etwas wollen vielleicht auch die machen oder gemacht wissen, die eine „Spex“ erwerben. Noch immer dem verhaftet, was sich „klassische Popkultur“ benennen lässt, zeigt sie, wie sich ein schönes, selbstbestimmtes, geschmackvolles und „kreatives“ Leben führen lässt. Nur wovon, nicht wie und womit leben, das beschäftigt sie selten.

„Eine heikle, eigentlich verbotene Frage“ befindet die Redaktion des „testcard“, und eine Antwort gibt sie nicht. Stattdessen widmen sich in der aktuellen Ausgabe zahlreiche AutorInnen dem Begriff des „Überlebens“ mit sehr unterschiedlichen Ansätzen. Diese entwickeln sich scheinbar assoziativ aus verschiedenen Deutungen des Wortes, wodurch eine Art „Rundblick“ entsteht, der mehr mit einem „aktuellen Forschungsstand“ als laufender „Tagespolitik“, wie sie Musikmagazine zum Gegenstand haben, zu tun hat.

Dieses Konzept verfolgt die „testcard“ seit ihrer ersten Ausgabe 1998. Von unter anderem Roger Behrens („Die Diktatur der Angepassten“, das hervorragende Buch, nicht der Song) und dem leider 2010 verstorbenen Martin Büsser herausgegeben wurden so bereits 21 Exemplare mit je gut 300 Seiten Text zu Themen wie „Pop und Destruktion“, „Linke Mythen“, „Extremismus“ und „Gender – Geschlechterverhältnisse im Pop“ gesammelt durch den Ventil Verlag veröffentlicht.

Nicht nur deswegen, sondern auch durch die Form, zum Beispiel teilweise verwendete Fußnoten und Literaturlisten, erweckt „testcard“ den Eindruck eines kulturwissenschaftlichen Readers – was eine Feststellung ist, keine Wertung. Denn über den Inhalt und Stil sagt das wenig aus, und schon gar nicht dürfte und sollte die Lektüre universitären Kreisen vorbehalten sein.

testNichtsdestotrotz ist, wie ihr gleich merken werdet, die Wiedergabe des Inhalts recht schwierig, wenn auch nur aufgrund der schieren Menge. Deshalb soll auf eine allzu genau Zusammenfassung der immerhin 33 Texte (vor allem Aufsätze und Gespräche) verzichtet werden, auch, da ansonsten eventuell gar kein Raum mehr bleiben würde, um über deren Vielfalt zu staunen.

Als Aspekte des Überlebens, von dem Wort ausgehend, es hinterfragend und interpretierend kommen so zum Beispiel vor: warum der Begriff für wen und wann eine wortwörtliche Rolle spielen kann, die Wandlung des Kapitalismus zum Neoliberalismus, Problem beim Reden über eine Ökonomie des Pop, die sich nicht in Zahlen fassen lässt, die Situation US-amerikanischer ComicautorInnen, Galerien und Künstlertum als „Dienstleitungen“, Zombies, Plattenhändler und das „Diggen“, ein Kleinstlabel mit Auflagen von oft nur 40 Exemplaren, Alternativen zum Urheberrecht, ein Nachruf auf Conrad Schnitzler, Gentrifizierung und das Leben mit HIV.

Ein Interview mit Simon Reynolds („Retromania“) ist ebenso enthalten wie ein Gespräch mit Gerhard Stapelfeldt, dessen vierbändige „ Kritik der ökonomischen Rationalität“ den Eindruck erweckt, man könne und solle sich auch jenseits akademischer Betätigung in Form eines Studiums mit den Werken dieser Sphäre befassen. Dazu passt es dann, wenn außerdem noch die Situationisten betrachtet werden und Diedrich Diedrichsen sich zum Pamphlet „Der kommende Aufstand“ und dessen Wirkung äußert.

Dabei hat nicht immer alles vordergründig so viel mit Pop (und oft nicht einmal Popmusik) zu tun wie der Artikel mit dem Namen „DIY or DIE?“, vielmehr scheint es, als würden die MitarbeiterInnen hier einen Beitrag zur Definition von „Pop“ an sich leisten. Glücklicherweise sind sie niemals nervige Bescheidwisser, auch wenn die meisten Texte eine thematische Tiefe aufweisen, die auszuloten nur dann wirklich nötig sein dürfte, wenn erwähnte Bücher, Tonträger, Bilder, KünstlerInnen bekannt sind. Sie kennen einfach nur anderes, nichts per se „Cooles“, aber eben lauter reizvolle Personen und Werke, denen anzumerken ist, dass sie etwas ganz Bestimmtes ausdrücken, vermissen lassen (und machen), antriggern, kurzum nicht einfach egal und „Geschmackssache“ sind. Es wird nicht von etwas erzählt, sondern Werke, Menschen und Verhältnisse werden besprochen und damit vorgestellt. Wer auf die Schmeicheleien des Altbekannten verzichten kann, ist hier genau richtig.

Erfreulich ist bei dieser immensen Menge und Vielfalt nicht nur das hohe inhaltliche, sondern fast immer auch sprachliche Niveau bei sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und Textformen, wie zum Beispiel einem selbst kommentierten Interview oder Roger Behrens‘ Collage aus Zitaten und Klischees verstorbener MusikInnen und Theretiker. Als Gemeinsamkeit aller Schreibenden könnte trotz der enormen Vielfalt der Glaube an die Veränderbarkeit des uns Umgebenden gelten, auch dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach niemand von ihnen mit den Augen rollen, wenn der Begriff „kritische Theorie“ fällt. Eine Anleitung zur Selbstvermarktung des eigenen Bedroompop-Projektes ist in der „testcard“ also nicht enthalten, wer ein solches betreibt, findet sich aber mit Sicherheit wieder.

Auf gut 250 Seiten Artikel folgen am Ende des Bandes noch zahlreiche Rezensionen, vor allem zu Musik (mit einem für NoiseliebhaberInnen erfreulichen Schwerpunkt, viel Elektronischem, einem Kassettenlabel und Re-Releases, in diesem Fall allerlei Punk, Neros tanzende Elektropäpste, Max Goldt und FleischLEGO, siehe etwas weiter unten hier), Büchern und Filmen. Aufgrund des Veröffentlichungsrhythmus‘ der „testcard“ (2x pro Jahr) können diese nicht immer aktuell sein, was uns aber nicht weiter kümmern sollte, denn das meiste davon fand und würde an anderen Orten eh keine Erwähnung finden. Schon gar nicht in der – na, ihr wisst schon wo.

Die aktuelle Ausgabe „Überleben“ ist im Dezember erschienen und kostst 15 Euro

Link: Testcard

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