Reib (XI): Revival-Abend

‚Seltsam ist das hier‘, denkt Reib, unsicher, ob ihm das alles behagt. Die Tanzfläche. 4 Uhr morgens. Und diese Typen. Vor allem diese Typen. Ein junger Kerl im Unterhemd beispielsweise, angehimmelt von schäbigen Hello-Kitty-Prototypinnen, die sich inzwischen hinter Bench verstecken. Der gute alte Laden: Haben sie hier die Spielregeln geändert?
Klar, Raucher, dagegen muss man angehen. Gegen Unterhemden hingegen kämpft keiner an, dabei ist das doch das viel größere Übel. Und zieht auch mindestens so viel nach sich. Um dieses unsinnige Szenario auf die Spitze zu treiben, zwinkert eine von den aufreizend unnatürlichen Mädels mit 75C und Hang zu üppigen Polstereinlagen auch noch in Reibs Richtung. Ein lustvoller Blick, bemüht erotisch. Die sollte man gleich mit verbieten. Also, eines steht mal fest: So regt sich gar nichts.
„Verdammt, wie lange habe ich denn pausiert?“
Die Musik ist laut, sodass Bauke so gut wie kein Wort versteht, ihn dafür aber schon eine ganze Weile beobachtet und gar nicht versucht, das schelmische Grinsen zu verstecken: „Das kommt dabei raus, wenn man jahrelang nur noch in Kneipen und Bars rumhängt, da verliert man den Anschluss.“
„Hat sich jedenfalls ne Menge getan, wie es scheint.“
„Was ist eigentlich mit Jana?“
„Hatten wir das nicht irgendwann schon mal?“ Reib weicht einen Schritt aus dem Gedränge vor den mal am, mal über dem Limit spielenden Lautsprechern zurück. Jetzt also doch das ungeliebte Thema: Jana, die gerade mal wieder klargemacht hat, dass eine Beziehung irgendwie nicht so das ist was sie will. Zumindest nicht unter diesen „Umständen“, was immer das auch heißen mag. Die noch zwei, drei andere Typen ganz nett findet. Diese Jana.
„Kommt jetzt nichts mehr?“
OK, das Ausweichmanöver für diesen Abend auf der Zielgeraden doch noch gescheitert, also was soll’s: „Weißt Du was, Bauke? Manchmal glaube ich, das ganze Leben ist wie Essen-Borbeck. Oder besser: Wie Wuppertal. Abgewrackt, kaputt, klamm. Überlaufen und auf wundersame Weise trotzdem einsam. Verregnet, ja, verregnet ist es. So verregnet, dass man irgendwann schutzlos in den dicken Tropfen weggespült wird.“
„Du kannst Dir doch einen Schirm holen, wie wäre es damit?“
„Einen Schirm?“
„Ja, so ein aufspannbares Wunderwerk. Das hat fast jeder. Vor allem in Wuppertal, habe ich gehört.“
„Ich schleppe doch nicht ständig so ein olles Ding mit mir rum. Nein nein, ich komme auch ohne Schirm aus.“
„Ah, die Nummer von dem starken Mann.“
„Der Schirm knickt doch beim erstbesten zweitklassigen Sturm ein. Im Zweifelsfall landen die fürsorglich angesammelten Tropfen dann im Nacken. Wahlweise auf der Pläte.“
„Aha.“
„Was, wenn ich einfach drinnen bleibe?“
„Achso, klar. Gerade bei Dir kann ich mir echt gut vorstellen, dass Du gänzlich den Appetit verlierst. Klingt plausibel.“
„Frauen bringen doch eh nur Unglück.“
Ein Blick durch den Nebel, der die Gesichter für einen Moment verdeckt. Wo früher enge Freunde den Takt des Abends vorgaben unbekannte Gestalten, die sich zu einer schemenhaften Masse formen. „Wie die Sonne. Die lockt Dich auch aus dem Haus – ‚Bei dem Wetter kann man nicht den ganzen Tag in der Bude hocken‘ – ein abgekartetes Spiel, sag ich Dir.“
„Wie war das noch gleich, achja, „Womanizer“, die ganz sichere Sache? Klingt so das Mastermind hinter diesem Tape?“
„Pah. Mach ruhig weiter so, Bauke.“
Ungeachtet der Tatsache, dass die Flasche schon vor den letzten drei Schlücken als leer durchgegangen wäre, versucht Reib noch einen Tropfen zu erwischen, bevor er seine Zigarette anschließend mal wieder am Filter anzündet und Bauke dem Spuk ein Ende bereiteten muss: „Junge Junge, Du willst mir allen Ernstes verklickern, dass Du vor dem Regen kneifst? Und dafür, sagen wir, aufs Grillen verzichtest?“
But if you’re worried about the weather
Then you picked the wrong place to stay
„Warum musst Du ausgerechnet damit kommen?“
„Merkst Du eigentlich, wie sie Dich anlächelt, drüben auf 14:30 Uhr?“
„Wolken ziehen auf. Siehst Du die?“
„Du bist mit Jana nicht zusammen, seit ihr euch vor einer Dekade kennen gelernt habt. Also nicht mal Quellwölkchen.“
Reib schaut unauffällig auf 17 Uhr, um mit einem dezenten Schlenker den Zeiger zurück zu drehen, auch das Drumherum zu mustern, die Kippe schon wieder falsch herum: Attraktiv, ja, da kann man nicht widersprechen. Zwar schon einige Typen in Lauerstellung, aber allein wie sie mit diesen Blicken umgeht und gleichzeitig ihrer Freundin die volle Aufmerksamkeit schenkt. Talentiert. Da gibt es sicher schlechtere Lösungen.
Bauke genießt die Situation sichtlich, nimmt ihm die Zigarette aus der Hand und bricht den Filter ab, um noch ein paar Züge zu retten:
„Reizvoll, nicht? Lange nicht mehr gegrillt, allein der Geruch.“
„Dieses Grill-Gequatsche. Mann, ich weiß nicht mal mehr, wie man das Ding anzündet. Vergessen.“
„Vergessen. Das glaube ich Dir sogar“, Bauke lächelt hämisch, „andere müssen dafür jahrzehntelang kiffen.“
„Ich sag’s ja. Besser drinnen bleiben. Und wenn man’s gar nicht mehr aushält, schmeißt man eben den Elektro-Grill an.“
„Den Elektro-Grill.“
„Da muss man ja nur den Stecker rein machen.“
„Den Stecker rein machen.“
„Welches dieser Worte soll ich Dir übersetzen, Bauke?“
„Es geht hier ums Grillen, Reib. Mit allem Drum und Dran, mit dem Geruch der glühenden Kohlen, dem Rauch, der Wärme, Freiheit, das große Ganze.“
Reib lächelt routiniert rüber, beinahe abgeklärt, will sich aber weiterhin nicht aus der Reserve locken lassen: „Im Trockenen sitzen, das hat auch was. Alter bringt Gemütlichkeit.“
„Und so manches graue Haar, jaja. Aber sieh es doch mal so, was hast Du für eine Wahl? Der Mist ist doch, bei Dir regnet es eh rein.“
Though when we’re running out of the drugs
And the conversation’s winding away
I wouldn’t trade one stupid decision
For another five years of life
Die Stimmung kippt: Reib zündet eine weitere rote Gauloises an (dieses Mal auf der richtigen Seite), bestellt vier Astra, von denen er dem verdutzten Bauke gleich zwei in die Hand drückt, „vielen Dank“, schlurft langsam zwischen den lauernden Jungspunden hindurch zu ihr, hält ihr die Zigarettenschachtel hin und deutet so selbstbewusst wie in diesem Zustand möglich Richtung Ausgang: „Gehen wir nach draußen? Ich habe im Auto noch ein Tape, das muss ich Dir unbedingt zeigen.“ Er wirft sich wie selbstverständlich ihre Jacke über die Schulter, nimmt ihre Hand und weist ihr den Weg: „Achja, und Deine Freundin“, dabei schaut er noch einmal zurück in Baukes Richtung, „kann die sich solange um meinen Kollegen kümmern?“
„Sound Of Silver“ von LCD Soundsystem ist 2007 via DFA erschienen.
Photocredits: Enric Archivell
Wieder einmal sehr schön! Am Ende möchte ich mir Essen-Borbeck noch einmal ansehen… man will ja auch mal das Leben kennenlernen.
Sowas sind echt immer die besten Nächte, zudem, wenn sich irgendwann in den Erinnerungen Realität und Irrsinn auf undurchsichtige Weise paaren. Wohl der ideale Soundtrack dafür.
@Lennart: Das freut mich sehr, danke! Ich glaube, Essen-Borbeck ist nicht das Leben, sondern das Leben, wenn es einem mal nicht so gut geht;)
Und ja, „All My Friends“ ist sicherlich sowas wie der Song einer Generation, den man irgendwann aus der Plattenkiste zaubert, wenn man den Enkeln von früher erzählt.
Ach so… dann war ich dort ja schon.