Pop 2012: Retromania, Transformation & Zukunftssorgen


Er zuckt doch noch, der Patient Musikindustrie. 2011 war das Jahr der Umbrüche und großen Transformationen: Aus vier Majors wurden drei, Musik wanderte sukzessive in die virtuellen „clouds“ und Datenbanken von Apple, Spotify, Grooveshark, Amazon und bald zudem noch Facebook – auch wenn man hierzulande durch die Blockade durch die GEMA (die geogefuckten Videos bei Youtube gehörten auch zum Nervigsten, was das letzte Jahr zu bieten hatte) der Rasanz der internationalen Entwicklung noch nicht ganz folgen kann. Soundcloud und Bandcamp gaben Myspace den Todesstoß und CDs zu besitzen, gerät immer mehr zu einem überholten Modell des Musikkonsums: Als auslaufendes Lifestyle-Statement.

Dazu passt es, dass das schwarze Gold Vinyl auch 2011 seinen Siegeszug auf kleinem Niveau fortführen konnte – es wurden so viele Platten verkauft und Rillen gegrillt wie seit den Anfängen der 90er Jahre nicht mehr. Zwischen dem digitalen Snack für zwischendurch und einer weiter um sich greifenden Gratismentalität bewährte sich der kausalen Logik entsprechend vor allem kostenlose und pay-what-you-like-Musik. Nie zuvor wurde so viel Musik verschenkt und ins Netz gestellt: Clams Casino – MotivationMixtapes, die eigentlich komplette Alben waren, gab es besonders in der HipHop-Szene: ASAP Rocky, Clams Casino, Frank Ocean, The Weeknd, The Internet oder Main Attrakionz – der Tonträger als wichtigstes musikalisches Absatzprodukt hat endgültig ausgedient, journalistisch gepflegte Plattformen wie DatPiff.com gewinnen Relevanz als Anlaufstelle für die Massen und als Kickstarter für (Konzert-)Karrieren. Folglich setzen neue Geschäftsmodelle (auch gezwungenerweise) vor allem auf Kooperation mit der Industrie. 2011 wurden mehr Touren gesponsert als je zuvor und Musik als Imageträger öffentlicher denn je vermarktet. Der beste Gratis-Sampler im Dubstep-Bereich war ein Werbeprodukt von [adult swim], einem Pay-TV-Programm. „Sellout“ gerät zur notwendigen Überlebensstrategie (zu den Umbrüchen im Musikbusiness auch ein lesenwerter Artikel von Billboard).

Der interessierte Musikhörer findet mehr denn je spezialisierte Medien und stark konturierte Kuratoren-Labels, die Geleit und eine Verlässlichkeit versprechen, die es in Gänze kaum mehr zu geben scheint. Musikalisch splittern sich die Szenen zusehends auf, verlieren sich in Unüberblickbarkeit und Fülle. Das mag ein Grund dafür sein, dass viele Hörer und Leser verstärkt auf Bekanntes setzen. 2011 wurden erstmalig mehr Katalog-Songs verkauft als frisch erschienene Veröffentlichungen. Passend dazu gibt es immer mehr Re-Releases, Dokumentar-Pop (Nepalesische Jahrmarktgesänge der 50er Jahre, von Kassette restauriert und veröffentlicht) von Nischenlabels wie Awesome Tapes From Africa oder Finders Keepers und Live-Reunions (Metallica, Smashing Pumpkins, Limp Bizkit, 3 Doors Down, Beach Boys), OPN – Power Of Persuationdie sichere Einkünfte garantieren – auch wenn die musikalische Klasse alter Zeiten bei Weitem nicht mehr erreicht wird. Man orientiert sich eben zurück – auch, weil im Internet eine Allverfügbarkeit herrscht. Dabei wird in immer kürzeren Abständen die unmittelbare Vergangenheit zum Reservoir an Ideen und Klängen. Deshalb scheint es, dass sich im großen Stil kaum Veränderungen ergeben. Ein Phänomen, das Simon Reynolds mit „Retromania“ (im März erscheint das wichtige Buch auch auf Deutsch) einzuordnen vermag und das uns 2012 sicherlich auch noch weiterhin beschäftigen wird. Es gilt, „Retro“ reflexiv statt als restaurative Aufgabe anzugehen, bloß so kann Pop seine künstlerische Relevanz konservieren.

Gerade im experimentellen Bereich scheinen die Bruchstellen dabei glücklicherweise extrem beweglich und noch sind nicht alle Möglichkeiten von Sampling, (Re-)Kontextualisierung und Aktualisierung ausgeschöpft. Fatima Al Qadiri – Vatican VibesWird 2012 also das Jahr von Esoteric-House, Weltmusik-Noise oder doch Gospel-Poststep? Gerade die höchst aktuellen Parameter „Spiritualität“ und „Globalisierung“ (am Beispiel Fatima Al Qadiris von De:Bug auf nerdigste Weise dargelegt) dürften den Untergrund spannend gestalten – Geschmacksgrenzen existieren sowieso nur noch in der subjektiven Wahrnehmung. 2011 hat mit dem Comeback von käsigem 80er-Jahre-Saxophon, Pornofunk, Disco, New Age und mit Hypnagogic Pop dafür gesorgt, dass Musik inzwischen als offenes System gedacht wird und gedacht werden muss.

Folglich war die Differenzierung von „Untergrund“ und „Mainstream“ nie so schwer wie im abgelaufenen Jahr. Man bedient sich einfach Spielarten und Klangfarben nach Gusto – die damit assoziierten Kontexte werden zwar mitgeliefert, verlieren aber oftmals ihre Wirkkraft, weil sie sich im aktualisierten Gebrauch jeglicher Einordnung entziehen und sich so von vormaligen Zuschreibungen lösen. The Weeknd – The MorningFrank Ocean kann man in diesem Sinne als Paradebeispiel sehen: Als Mitglied der Odd-Future-Crew stammt er aus dem DIY-Untergrund, nutzt aber Samples von Pophits, die er, kaum verfremdet, in seine Tracks einbaut und so Grenzen einreißt. Ein neues Selbstverständnis entsteht – schwere Zeiten für Authentizitätsnörgler und Hörer, die aus den Tracks selbst eine wie auch immer geartete Glaubwürdigkeit ableiten wollen.

Musikalische Neufindungen und der Hype ganzer Genres sind ausgeblieben und daran wird man sich gewöhnen müssen, frei kulturpessimistisch nach Simon Reynolds: Das popmusikalische Archiv lähmt momentan den Sinn für Utopien und wirkliche musikalische Innovation. Entschädigt wird jedoch mit enormer Vielfältigkeit, was auch weiterhin kaum Änderung erfahren wird. Szenen splittern sich auf, Vergleichbarkeit wird nahezu aufgehoben und im Untergrund sind die Schlagworte schon beim Aussprechen überholt: Swag, Internet-R’n’B, Ketzer-Trance, Nightbus, Beatless House, Neonbass, Aquacrunk – immer absurder und kurzlebiger werden die Kategorisierungsversuche der Medien, die es kaum mehr schaffen, den mikroskopisch zerstäubten Evolutionen Rechnung zu tragen.

Während Samples, Beats und Bass vor allem im Internet als schnell zu produzierende Tracks David Guetta – Little Bad Girlweiterhin bestimmend bleiben werden, gerät der etwas abstraktere Klang, die etwas düsteren und vermeintlich cooleren Produktionsweisen auch ins Blickfeld des Mainstreams, wo die Dominanz von Frauenvocals und Guettadance langsam erodiert. Langsam allerdings, sehr langsam, und nicht ohne vermehrt auf 90er-Jahre R’n’B zurückzugreifen. Was dann auch zu beweisen war: willkommen in der Dauerschleife! Musik wird eben immer da sein, in steter Veränderung. Man braucht bloß mehr denn je eine Lupe, um dies zu erkennen.

3 Kommentare zu “Pop 2012: Retromania, Transformation & Zukunftssorgen”

  1. […] unserem großen Überblick über generelle Trends in Pop und Musikgeschäft folgt jetzt also die noch größere Vorschau auf die Neukommer 2012, was die Freude über neue […]

  2. […] erste Einschätzung zum Trend-Thema Retromania in Anlehnung an Reynolds’ vielreferenziertes Buch haben wir euch bereits an die Hand […]

  3. […] Simon Reynolds’ im letzten Jahr erschienenes Buch „Retromania“ zu Gemüte führen („Es gilt, “Retro” reflexiv statt als restaurative Aufgabe anzugehen“), oder man besucht ein Konzert, in dem dies anschaulich zu beobachten ist. An einem Freitagabend […]

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