Nathan (X): Entfremdung

„Traurig? Das ist der Kapitalismus, die Entfremdung durch den Kapitalismus.“
„Mhm? Wie bitte?“ Nathan hätte das besser überhören sollen, er müsste doch wissen, dass sich die Welt nicht in Kneipen erklären lässt. Vor allen Dingen nicht von fremden jungen Menschen mit Dreadlocks.
Voller Eifer begann ein solcher nun: „Die Produktionsmittel, die gehören nicht Dir, oder?“
‚So was aber auch. Und der blinzelt ja kaum, man muss doch aber öfter blinzeln, hier ist alles verqualmt … warum blinzelt der nicht? Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Soll er doch seltsam sein und reden wollen, rauschbedingt Allgemeinplätze verwalten, das kommt vor‘, dachte Nathan und ließ sich endgültig auf ein Gespräch ein. Das gebot die Höflichkeit, und außerdem saß er allein am Tresen. Da ergeben sich zu später Stunde schon mal nichtige Austauschereien.
„Wenn Du die Räume und Stühle und so meinst, ja.“
„Nein, ich meine die Produktionsmittel, Maschinen und so.“
‚Herrje … Was will der mich belehren … Und dieser Blick. Stieren kommt kurz vorm Wahnsinn, pflegte Oma zu sagen.‘ Nathan war unangenehm berührt, wollte sich aber nichts anmerken lassen.
„Produktionsmittel? Den ganzen Tag sitze ich auf einem Stuhl vorm Rechner, und dadurch produziere ich, auch mich selbst, ich nehme nämlich zu. So ist das leider.“ Ein Schluck Bier, der half nun auch nicht dagegen.
„Rechner, Infrastruktur, Maschinen …“
Freundlich bleiben. „Alles, was ich zur Produktion benötige, befindet sich in meinem Kopf, der ist mein Produktionsmittel … und wenn mein Kopf nicht meiner wäre, dann hätte ich es gemerkt. Ich bin kein Stahlarbeiter, oder Bäcker, oder irgendetwas in der Art. Ich bin kein Proletarier, tut mir leid, trinke aber dennoch gern Bier, in Ruhe.“
Jungmensch, so wollte ihn Nathan für sich nennen, war nicht zu beirren. „Ob Arbeiter des Kopfes oder der Hand …“
Dabei sah er gar nicht so verrückt aus.
„Herrje, wo hast Du denn diese revolutionäre Lyrik her? Das sind ja mal tolle Metaphern, und was willst Du mir eigentlich sagen? Klar ist der Kapitalismus blöd und eine der blödesten Blödigkeiten von vielen, sicher auch die Ursache vieler Blödigkeiten, oder Blödheiten, und Ursache und Folge und was weiß ich, Anlass, Verlauf, Ereignis, wie das in der Schule so war. Lernt ihr das auch noch? Oder in der Uni, oder wo Du bist?“
„Nee, da isses anders … Und Du hast vieles erkannt, aber Dir fehlt die Wissenschaftlichkeit, das ist die Sache.“
Das edle Vorhaben, Jungmensch nicht verletzten zu wollen, verblasste zusehends neben dem Wunsch, Ruhe vor halbgaren Gedanken zu haben.
„Wie denn? „Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen“, oder was? Soll ich jetzt in einen Arbeiterlese-, einen Arbeiterkopf-, Kopfarbeiterleseverein gehen, oder wie? Als hätte ich nie meinen Marx gelesen, oder Deinen?“
„Nee, warte … ich hol noch ein Bier, oder Gin Tonic. Du trinkst doch Gin Tonic?“
Das war doch mal eine überraschende Wendung, unheimlich blieb die ganze Situation aber immer noch. ‚Ein komischer Mensch … aber was ausgeben ist lieb, naja, so kann selbst ein Grobian lieb sein, gehört ja doch nichts weiter dazu, nur Geld. Und dann vom bösen Kapitalismus reden, aber Mixgetränke ausgeben können …, na, dann will ich mal versöhnlich sein.‘
„Ah, vielen Dank. Klar ist der Kapitalismus blöd, aber wie kommst du darauf, mir die Welt erklären zu wollen… das macht mich traurig, weißt Du? Und wenn ich traurig werde, mache ich keine Revolution mehr, dann schmolle ich, und dann bleibt der alte Marx in seinen Werken, und wenn ich nach ewiger Schmollerei die Welt kaputt mache, ist auch er dran, so sieht das nämlich aus.“
Jungmensch lachte, das war doch gut. ‚Hilft am Ende auch nix‘, dachte Nathan, ‚aber wer lacht, kann mir nicht gleichzeitig die Welt erklären‘. Etwas milde gestimmt fuhr er fort.
„Nein, weißt Du, so nicht … lies Marx. Das Produkt meiner Arbeit gehört nicht mir, stimmt. Aber ich sitze hier wie auf Arbeit, bin derselbe Mensch, derselbe Trottel. Mein Werkzeug, meine Produktionsmittel, das bin ich. Schlimm genug. Könnte hier sofort anfangen zu arbeiten, ohne weiteres. Naja, wenn ich ein Kopfarbeiter sein soll, bin ich’s eben, und betreibe jetzt Sabotage, so.“ Ein tiefer Zug am Strohhalm, allein das macht Spaß, es bräuchte gar keinen Rausch … ‚Bald‘, so beschloß Nathan voller Vorfreude, ‚trinke ich eine Limo mit Strohhalm‘.
Jungmensch sagte nichts, stierte einfach stumm vor sich hin und drehte immer wieder den Kopf zur Uhr, wieder zurück, wieder zur Uhr. Noch ein Blick zur Uhr, und dann die Frage: „Sag mal, wohin kann man heute noch gehen?“
Gerade eben hatte sich Nathan tatsächlich mit dem selbstgefälligen Wohlwollen des Älteren auf ein Gespräch einlassen wollen. Dann eben nicht. „An einem Dienstag? Um zwei? So viel wird nicht mehr offen sein, außer ein paar Kneipen.“
Jungmensch wurde unruhig. „Irgendwas muss doch sein, was zum tanzen, ich bin ziemlich aufgedreht, habe ein wenig nachgeholfen …“
„Aha.“
„Ja, ich bin ja sonst nicht so für Koks zu haben, aber wenn ich was da habe, will ich es alle machen, weißt Du? Kokst Du?“
Ach du Scheiße. Ein koksender Kinderkommunist.
„Nein.“
„Bin etwas hippelig, Du weißt ja …“
Oh nein, wusste Nathan nicht, wollte er auch nicht.
„Tanzen kann man in ein paar Läden sicher noch, geh mal auf den Hamburger Berg.“
„Kommst Du mit? Ich geb‘ Dir noch einen aus.“
„Ähem … nein, besten Dank, ich gehe gleich heim.“
„In welche Richtung?“
„Du zum Kiez, ich in die andere.“
„Okay … also, dann auf bald, ja?“
„Alles Gute.“
Jungmensch ging und hatte keinen einzigen Schluck von seinem Getränk genommen. ‚Bevor es schlecht wird …‘ rechtfertigte Nathan die Bewegung, mit der er das Glas an sich zog und wider besseren Wissens aufs Neue gelobte, nicht mehr mitten in der Nacht mal eben alleine auf ein Bier auszugehen.
”Revolution” von The Beatles erschien erstmalig 1967 als B-Seite der Single „Hey Jude“ via Apple Records, ist in dieser Version aber auch auf den Compilations „1967-1970“ und „Past Masters“, ebenfalls Apple Records, enthalten. Bild: Bogdan Luca (Ausschnitt)