AUFTOUREN: 2011 - Geheime Beute

MATT BAUER – The Jessamine County Book Of The Living [Crossbill]

Dunkel. Düster. Nebulös. Verstiegen. Zerbrechlich. Einnehmend. Sepiafarben. Dickicht. Undurchsichtig. Fesselnd. Verstört. Rotgolden. Verschleiert. Still. Aufbrausend. Mysteriös. Seltsam. Brüchig. Flüchtig. Kaum ein klassisches Folkalbum, das dieser Tage nicht mit mindestens drei oder mehr dieser Vokabeln beschrieben wird. Doch Matt Bauer verträgt auf „The Jessamine County Book Of The Living“ all diese Begriffe (und das mit Recht), was bei Songs wie dem intimen „Useless Is Your Armor“, dem an Vic Chesnutt erinnernden „White Lakes“ oder dem kargen „Blacklight Horeses“ nur zu deutlich rauszuhören ist. (Carl Ackfeld)


JULIA HOLTER – Tragedy [Leaving]

In einer Aufmerksamkeitsökonomie, in der auch vermeintlich kunstvolle Musik hastig und unfertig als Blogfutter ins Netz gestreut wird um ja nicht den Anschluss an Zeitgeistrends zu verlieren, ist Julia Holter eine angenehme Ausnahmeerscheinung, die Dinge Weile haben lässt. Über Jahre feilte sie sowohl an ihrem nächstjährigen Album wie auch am phänomenalen, blitzschnell nach Erscheinen ausverkauften „Tragedy“. Dabei enhält dieses Musik, die zunächst alles andere als Eile fordert. Aufmerksamkeit vor allem, Aufgeschlossenheit und Neugierde darauf, was sich aus den anfangs spärlich gestreuten Klängen entwickelt. Holter breitet mit Piano, Drones, Samples, Perkussion und Spoken Melodies behutsam Kompositionen aus, die sich untereinander in Ansatz und Soundpalette meist völlig unterscheiden. Was sie letztendlich zu einer tief vereinnahmenden Hörnarrative macht, ist eine alles einende Atmosphäre, für die die leerräumigen Pausen, Stockungen und hörbar angehaltener Atem zwischen den Tönen nicht minder elementär sind. (Uli Eulenbruch)


DJ DIAMOND – Flight Muzik [Planet Mu]

Ein Album als Entwurf eines Trends: DJ Diamond skizziert rhytmisch vertrackte, samplewütige und sehr indirekte Songentwürfe, die für das Label Planet Mu, den Booty House bzw. Juke aus Chicago und vor allem: Footwork stehen. Ein Stück Tanzkultur, das auf, nun ja, Fußarbeit basiert, hektisch und versiert ist und den Oberkörper dagegen nahezu unangetastet lässt. Leider steckt der Trend nach wie vor in den Turnschuhen und wird wohl wegen mangelnder Hörerfreundlichkeit und zu ungeradem Beat seine Nische eher nicht verlassen. Eine schöne und interessante Randerscheinung der Clubkultur ist Footwork und Flight Muzik aber allemal. (Sebastian Schreck)


COLIN STETSON – New History Warfare Vol.2: Judges [Constellation]

„There were those who took out knives/ There were those who kissed the grey skies / There were those who knew only the sound of their own voices / There were people lighting candles / There were people going crazy / There were those who walked the beach / What war is that? / What town could this be??“ Es sind die Worte Laurie Andersons, die in „A Dream Of Water“ Colin Stetsons Saxophonspiel überlagern. In der Regel steht es jedoch für sich allein und trägt die Stücke. Die Konzentration auf Stetsons unnachahmlich intensives Saxophonspiel macht „A New History of Warefare, Vol.2“ so einzigartig wie auch dessen endlose Wiederholung einzelner Themen und Stetson unglaublich ausgefeilte Aufnahmetechnik. Folgerichtig kämpft Stetson in diesem Jahr gegen Matana Roberts um nicht weniger als den Titel für das innovativste und vielleicht beste Jazzalbum 2011. (Constantin Rücker)


SANDRO PERRI – Impossible Spaces [Constellation]

Angeschnallt Messieurs-dames, starten sie ihre Reise in die Welt des Sandro Perri. Hier koexistiert die Smoothness von „Kaputt“ mit den Polyrhythmen früher Post-Rocker, hier treffen sie an einer Ecke auf die spacig-elektronischen Zuckerhüte eines Lindstrøm, anderswo auf tropisch warme Gitarrenläufe. Doch bei allem Unernst, anfangs wirkt das Werk des brüchig emotional singenden Kanadiers ein wenig wie ein gemütlich groovender Klangtrip mit vorbeigleitenden Seitenattraktionen. „Impossible Spaces“ vertieft sich wegen der elastischen, exkursionsfreudigen Strukturen seiner Songs sukzessiv. Gerade deswegen ist es notwendig, dass die meisterliche Produktion eben das Hören dieser warmen Musik zu so einer genüsslichen Annehmlichkeit macht, dass man sie genausogut nebenher laufen lassen wie sich den „Impossible Spaces“ voll widmen kann. Mit seinem Gefühl für Dimension und das Arrangement von Wohlklängen darin ist es nicht weniger als das Kopfhöreralbum des Jahres. (Uli Eulenbruch)


KRENG – Grimoire [Miasmah]

Diese Sammlung von Zaubersprüchen verursacht Stehhaare. Die beklommenen und brodelnden Töne auf „Grimoire“ sind von so viel Düsternis durchzogen, dass es einem schier das Herz zerspringen lässt. Bebend und blubbernd, immer an der Grenze zwischen organischem Puls und technoidem Glanz komponiert der Belgier Pepijn Caudron eine bestialische Symphonie mit geradezu verführerischer Eleganz. Einmal in den Sog dieses Soundtracks für einen imaginären Horrorfilm hineingeraten, will man gar nicht mehr weghören, denn wie in einer Geisterbahn lauern hinter jeder Ecke neue Überraschungsmomente, die von klassischem Cellospiel bis hin zu komplexen Ambientspuren reichen. (Carl Ackfeld)


TU FAWNING – Hearts On Hold [City Slang]

Mit Geheimtipps ist das ja immer so einer Sache. Wo und wann hört eine Band auf, unbekannt zu sein? Geht es nach den Mitgliedern von Tu Fawning, so sind diese als Corinna Repp und Mitglieder von 31 Knots längst keine unbeschriebenen Blätter mehr. Angesichts dessen, wie großartig ihr gemeinsames Debütalbum „Hearts On Hold” dann aber wirklich geworden ist, kann man sagen, dass es bisher definitiv zu wenig Aufmerksamkeit bekam. Tu Fawning vereinen wieder einmal das Beste aus zwei, nein, mehreren Welten und finden dabei einen ausgewogenen Mittelweg zwischen Virtuosität, solidem Songwriting und der nötigen Spur Wahnsinn. Hier bahnt sich holprig eine beeindruckende Dreiviertelstunde zwischen Tom Waits, psychedelischem Folk und frickeligem Mathcore ihren Weg ins Hörerherz. Und still und heimlich entsteht so ganz nebenbei ein eigenes kleines Genre. Wie wäre es denn ausnahmsweise mal mit Math-Folk? (Bastian Heider)


PETE SWANSON – Man With Potential [Type]

Während die Fusion von Nu-Metal und Trinkhallen-Dubstep Schauder der falschen Art erweckte, führten Vermengungen von industriellem Lärm und Beats gerade in der zweiten Hälfte von 2011 zu aufmischenden Ästhetiken. Noise Techno, Outsider Electronica, Post-Techno – egal, wie man das Phänomen nun nennt, nach Vintage-Synthesizern hat die (Post-)Noise-Szene neue Spielzeuge gefunden. Zwischen den Acid-zwitschrigen Verspulungen KPLRs und den tatsächlich betanzbaren 4×4-Bangern von Container steckt Pete Swanson das weiteste, diffuseste Terrain ab. Die ehemalige Hälfte von Yellow Swans lässt auf dem pulsstimulierenden „Man With Potential“ – mitunter ans frühe Werk des Duos erinnernd – in durchgängig rauen Texturen Black-Dice-artige Loop-Prozessionen als Startbahn für einen heulenden Beat-Flug dienen, der aber auch entspannter wie krachige Boards Of Canada oder Gas die Aussicht bewundern und downtempo in Bodennähe kakophonieren kann. (Uli Eulenbruch)


TY SEGALL – Singles 07-10/Goodbye Bread [Drag City]

Wenn es so was wie einen legitimen Erben des vor zwei Jahren plötzlich verstorbenen Jay Reatard gibt – es kommt einem zwangsläufig Ty Segall in den Sinn. Dies wird nicht erst durch die Veröffentlichung der Collection „Singles: 2007-2010“ deutlich, die ähnlich wie Reatards „Singles 2006-2007“ und „Matador Singles 08“ innerhalb von wenigen Jahren eine herrlich nachvollziehbare Entwicklung eines ambitionierten Künstlers aufzeigt. Vom ungestümen Lo-Fi-Fuzz hin zu songorientierten, klaren Produktionen, die Segalls immense Weiterentwicklung als Songwriter offenbaren und ihn womöglich als ambitioniertesten Vertreter der aktuellen Garage-Szene San Franciscos um Thee Oh Sees oder The Fresh & Onlys zeigen. Untermauert wird dieser Prozess auf dem ebenfalls dieses Jahr erschienenen, ebenso formidablen Longplayer „Goodbye Bread“, der mit Songs wie „You Make The Sun Fry“ oder „The Floor“ gar bei Marc Bolan andockt. (Pascal Weiß)


EGYPTRIXX – Bible Eyes [Night Slugs]

Der Kanadier Egyptrixx glaubt an den Klub als utopische Station, er verweigert sich nicht dem amtlichen Funktionalismus und geordneten Verhältnissen: Das hier ist nicht weniger als das aufgeplustertste Neon-Bass-Album des Jahres. Und kein bisschen schüchtern. Schnell voran schreitende Beats, flüchtende Flächen und monströse Samples im Hintergrund lassen die Tracks dabei immer unrund laufen und alle Klischees alt aussehen. „Bible Eyes“ gesteht man so gerne zu, immer ein bisschen cartoonhaft überzogen zu sein, fast so grell wie die englischen Rave-Platten der 90er. Dafür überzeugen Produktion, Abwechslung und die vielen Melodien, die sich fast selbst zu feiern scheinen. (Markus Wiludda)


BROWN RECLUSE – Evening Tapestry [Slumberland]

Fünf Jahre brauchte die Band aus Philadelphia für ein Debütalbum, das nicht unscheinbarer und harmloser sein könnte. Sänger Tim Meskers singt zurückhaltend und die Orgeln erschallen etwas spleenig und verspielt, verträumt und leicht verhuscht sind die Songs – gepflegter und gepflegt gefühlsduseliger Indie-Pop der zurückhaltenden Sorte, dessen kleine Wunder hinter einem Berg an Twee–Harmonie galant versteckt hervorlugen. Der Song „Monday Moon“ ist ein Indie-Gassenhauer. „Evening Tapestry“ bezaubert als Schatz von einem Album, dessen Qualität darin besteht, leicht überhört zu werden. (Sebastian Schreck)


TIGER & WOODS – Through The Green [Running Back]

Bei den progressivsten Musikentwürfen dieses Jahres erschienen unter anderen zwei Motive wiederkehrend als treibende Kraft: einerseits die konstruktive Nutzbarmachung vergangener Musikstile für das eigene künstlerische Vorankommen, wie unter anderem bei Oneohtrix Point Never, Thundercat, The Caretaker, Ford and Lopatin oder Destroyer; andererseits der massive Einsatz von Loops und Wiederholungen, sei es in den Kompositionen Julianna Barwicks, dem Avantgardejazz Colin Stetsons, dem Black Metal Liturgys oder dem Minimal Techno von The Field. Tiger & Woods blieb es vorbehalten, in ihrem epischen Discofunk beide Entwicklungen geradezu beispielhaft miteinander zu vereinen: 10 Songs, keiner unter 6 Minuten. Die Band mit dem leicht albernen Namen recycelt hierfür Dancehits der 70er und 80er Jahre in Endlosschleifen und zaubert schon beim ersten Hören Schweiß auf jede Stirn. (Constantin Rücker)


FORMA – Forma [Spectrum Spools]

Kälte und Reduktion – so lässt sich das Debüt der New Yorker Forma am besten zusammenfassen. Forma sind nicht die erste Band auf dem Kraut- bzw. Synth-Retrozug, genau genommen sind sie im Jahr 2011 schon relativ spät dran. Allerdings verzichtet das Trio auf die sonst üblichen ausladenden Songstrukturen und setzt dem ein kompaktes und präzises Gefüge entgegen, mit dem es tatsächlich gelingt, dem Trend einen neuen Akzent zu geben. So erschaffen Forma mit relativ einfachen Mitteln eine beeindruckend dichte Atmosphäre, die in Kraftwerks „Mensch-Maschine“ und „Autobahn“ ihren Ausgangspunkt hat und sich bis zum Minimalismus der 1980er Jahre weiterspinnt. (Felix Lammert-Siepmann)


THE STEPKIDS – The Stepkids [Stones Throw]

Moment, war da nicht was? Das kennt man doch. Oder etwa hier? Ja und nein. The Stepkids mischen auf ihrem Debüt Anleihen und eigene Ideen so wild zusammen, dass sich Fragen nach dem Urheber nicht beantworten lassen und schließlich unwichtig werden. Als Background-Band für Alicia Keys oder Lauryn Hill haben The Stepkids ihre Wurzeln klar im Soul und Funk, die aber in jedem Augenblick von Ideen aus fünf Jahrzehnten Popmusik überwuchert werden. „The Stepkids“ nimmt sich dem Indie-Rock der Gegenwart ebenso selbstverständlich und leichtfüßig wie dem Psychedelic der 60er und dem Glam der 70er Jahre an. Die eigentliche Kunst: Durch diese bunte Melange wird „The Stepkids“ zu einem mustergültigen Popalbum. (Felix Lammert-Siepmann)


ANDY STOTT – Passed Me By / We Stay Together [Modern Love]

Jahrelang tobte Andy Stott unentdeckt durch den englischen Untergrund. Mit seinen beiden EPs hat er 2011 auch außerhalb seiner Heimatstadt Manchester reichlich Staub aufgewirbelt. Bereits im Mai erschien das Minialbum „Passed Me By“, das zu Recht von der Kritik gefeiert wurde, im November der dronige Nachfolger „We Stay Together“. Auf beiden Alben verbindet er düstere House- und Techno-Abstraktionen mit grollenden Atmosphären und spannenden Untiefen, die trotz allem Minimalismus unglaublich wirkmächtig sind. Stotts Vision ist ein dämonischer Techno, steril und zugleich unendlich dreckig. Hier werden Beats durch alte Industrieanlagen gejagt, vom inneren und äußeren Zerfall genährt, bis zur physischen und psychischen Erschöpfung gepeitscht. Orientierungslos lässt Stott seine Hörer am Ende zurück und schwingt sich zugleich auf, der Konsenskünstler des Jahres für Kopfhörertechno zu werden. (Markus Wiludda)


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13 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2011 – Geheime Beute”

  1. Phil sagt:

    Schön schön, da wartet wieder einiges, was von mir entdeckt werden will!
    Chikita Violenta hört sich bisher schonmal gut an. Roni ist cool!
    Danke

  2. yeans sagt:

    clams casino ein geheimtip? naja….

  3. […] besonders in der HipHop-Szene: ASAP Rocky, Clams Casino, Frank Ocean, The Weeknd, The Internet oder Main Attrakionz – der Tonträger als wichtigstes musikalisches Absatzprodukt hat endgültig ausgedient, […]

  4. […] ausgleichen. Pay-what-you-like- und Gratis-Alben, das waren 2011 etablierte Kickstarter – siehe Clams Casino, Frank Ocean oder ASAP […]

  5. […] Highlights war beispielsweise das vom britischen Wire-Magazin veranstaltete Gespräch zwischen James Ferraro und Daniel Lopatin (aka Oneohtrix Point Never). Beide hatten im zurückliegenden Kalenderjahr zwei […]

  6. […] Holter mit gleich zwei herausragenden Alben materialisiert zu haben, doch wie das letztjährige „Tragedy“ ist auch „Ekstasis“ Produkt eines langen Entstehungsprozesses. Es zeigt Holter als den […]

  7. […] Was es nur noch eindrucksvoller macht, dass dieses nach dem jüngst auch hierzulande erschienenen „Tragedy“ bereits ihr zweites Album innerhalb weniger Monate […]

  8. […] Hintertürchen auf fast alle wichtigen Bestenlisten des vergangenen Jahres – so auch in unsere Geheime Beute. Das Erfolgsgeheimnis dieses Stückes haben Peaking Lights nun kopiert. Sechs mal. Und plötzlich […]

  9. boo sagt:

    Danke für diese Liste – da sind ja wahnsinnig tolle Sachen dabei. Auch auf der anderen Seite. Da hab ich einiges verpasst. Wie soll ein arbeitender Mensch auch immer so viel Musik hören? Aber hier scheint vieles wirklich relevant zu sein. Trifft meinen Geschmack zwar nicht immer (die HipHop-Sachen), aber selbst da muss ich zugeben, dass das schon Qualität hat.

  10. […] hatten Ferraros Werke gerne so programmatische Titel wie „Last American Hero“ oder „Far Side Virtual“. Beide Alben waren auf ihre jeweilige, unverwechselbare Art apokalyptische Soundtracks einer […]

  11. […] er seine Vocals neben Santigolds Refrain auf „Hell“ in den hallenden Hintergrund, während sich Clams Casinos tranciger Soundteppich den dumpfen Beats unterordnet. Besser ließen sich Schwächen kaum […]

  12. […] Train Fantasma“ hatte es weiland in die Geheime Beute geschafft, da darf ruhig wieder mal bei Chris Watson und seinen magischen Field Recordings genauer […]

  13. […] aus Los Angeles zum ersten Mal ein gegenwartsnahes Konzept: Nachdem sich die beiden Vorgänger „Tragedy“ und „Ekstasis“ vornehmlich an klassischer griechischer Literatur abgearbeitet hatten, geht […]

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