AUFTOUREN: 2011 – Das Jahr in Tönen

2011 war ein folkiges Jahr. Zumindest, wenn man nach den Nominierungen des Industriepreises Grammy geht, bei denen Bon Iver zwischen vier Erwähnungen – unter anderem „Bester neuer Künstler“ – breit vertreten ist. 2011 war auch ein punkiges Jahr, in dem ambitionierte Langzeiterzählungen ebenso aufrührten wie jugendlich energetische Sprints. Gewiss war 2011 auch ein Jahr, in dem HipHop und R&B Seitenwind aus dem Untergrund bekamen, munter dekonstruiert und rekontextualisiert wurden, von den Wirbeln um Casper und Odd Future mal ganz abgesehen.
Denn auch, wenn die Berichterstattung darüber unrentabel scheint: Die Nischen blühen. Kein Genre scheint unantastbar, keine postmoderne Vermischung, Mini- oder Maximalisierung zu abwegig, immer wieder schließen sich neue Perspektiven auf scheinbar Altbekanntes auf. Dass dabei ebenso wie abseits von Trends die Kohärenz nicht zu leiden hat, zeigt ein Blick auf unser Rezensionsarchiv. Viele Alben haben uns dieses Jahr dermaßen überrascht, überzeugt, überwältigt und verführt, dass sie an der intern stets hart debattierten 9er-Wertungsgrenze kratzen und sie sogar in drei Fällen erreichen konnten.
Hat James Blake mit seiner souligen Neugestaltung des Dubstep-Raums den Konsens-Bestenplatz erreicht? Die kunterbunte Klangwelt von Gang Gang Dance? Oder vielleicht doch St. Vincent mit ihrer metallgesplitterten Artpop-Eleganz? Oder hat sich, wie nicht selten in dieser Liste geschehen, an der Spitze ein anfangs unterschätztes Werk mit der Zeit als absoluter Favorit entpuppt? Seid mit dabei, wenn wir euch in den folgenden Tagen unsere Top 50 ebenso präsentieren wie ab Donnerstag die „Geheime Beute“, 30 Werke zu abwegig oder nischenhaft für den großen Konsens, die wir aber für nicht minder großartig halten. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen, Entdecken und regen Diskutieren. Auf geht’s:
50 |
EMA „Past Life Martyred Saints<" [Souterrain Transmissions] |
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Erika M. Anderson singt von blau geschlagenen Augen, aufgequollenen Lippen, aufgeritzter und verbrannter Haut. Nicht weniger unbequem ist ihr Drone-Folk. Sie nutzt Schwälle aus knarzigem Gitarrendröhnen für feedbackgeladene Spannungsräume, begleitet Gefühlsbrüche mit Harmoniebrüchen oder zerrt die eigene Stimme im peitschenden „Milkman“ in ein monströses Digitalheulen. Doch gerade, wenn die Anspannung unerträglich und der Katharsispunkt überdehnt zu werden drohen, schiebt sie eine gebrochene Schönheit wie „Marked“ oder Erlösungsmomente wie in „Anteroom“ ein: “If this time through we don’t get it right / I’ll come back to you in another life.” Ein Album, von dem man sich auch im Diesseits immer wieder abholen lässt. (Uli Eulenbruch) |
49 |
Locas In Love „Lemming“ [Staatsakt] |
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Im deutschsprachigen Indiepop, in dem es zwischen politisiertem Diskurs und Befindlichkeitslyrik mit gefährlicher Nähe zu Schlager und stumpfen Durchhalteparolen ja nicht unbedingt viele Nischen gibt, wirken Locas In Love stets wie ein Fremdkörper. Vielmehr in amerikanischer oder schottischer Tradition zwischen Noisepop und Twee verhaftet, erzählen diese auf “Lemming” von den Widersprüchen, gleichzeitig zu lieben und die ganze, schlechte Welt um einen herum zerstören zu wollen. Musikalisch oppulenter und ausgereifter als je zuvor verbirgt sich hinter der knuffigen und mit allerhand nerdigen Verweisen ausstaffierten Fassade große Bitterkeit und Tiefe. Hier hat sich niemand in harmloser Melancholie gemütlich eingerichtet, hier ist alles wirklich “so schlimm, wie es scheint.” (Bastian Heider) |
48 |
Katy B „On A Mission“ [Columbia] |
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Es ist nicht alles Dubstep was danct: Als hätte sie die völlige Konfusion des Begriffes zwischen Blake und Skrillex kommen sehen, ist das D-Wort auf Katy Briens erstem Album – abgesehen von ihren Kollaborationen mit Magnetic Man – doch eher eine Randerscheinung. Stattdessen glänzt „On A Mission“ verwirrungsfrei mit zeitgemäßem Dance-Pop aus Funky House, Disco- oder auch Breakbeat-Impulsen. Elegante Arrangements gehen stets Hand in Hand mit Briens einnehmender Stimme und ihren trefflich beschreibenden Texten über Verzückungen auf der Tanzfläche und Tiefgänge abseits des Clubs – und das mit einer Ohrwurm-Konsistenz, dass es kaum noch verwundert, dass dieses Album bis dato sieben Singles hervorbrachte. (Uli Eulenbruch) |
47 |
13&God „Own Your Ghost“ [Alien Transistor] |
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Wie schön, dass die Verbindung von HipHop, klassischer Bandbesetzung und Elektronik durch 13&God, bestehend aus Themselves und The Notwist, im Jahr 2011 keiner grundsätzlichen Einführung mehr bedürfen sollte. Musikalisch und textlich vereinen sie auch auf ihrem zweiten gemeinsamen Album „Own Your Ghost“ Bestes aus den jeweiligen, sehr weitläufigen Welten, ohne dass gesagt werden könnte, wer genau was beigetragen hat. Mit „Old Age“ gibt’s einen recht stringenten Hit, „Et Tu“ ist ein kleines, per Motorikbeat ins Kraut kriechendes Biest, auch „Sure As Debt“ zappelt rhythmisch, musikalisch wie auch sprachlich. Übermäßig bollerig wird es dabei nie, das wäre auch dem Thema unangemessen. Denn „Own Your Ghost“ befasst sich mit der Vergänglichkeit unser aller Lebens, ist ein geschmackvolles, aber unverblümtes Memento mori. (Lennart Thiem) |
46 |
The Caretaker „An Empty Bliss Beyond This World“ [History Always Favours The Winners] |
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Wer sich von einer allzu verkopften Herangehensweise an Musik abschrecken lässt, der sollte bei Platz 46 kurz weghören, denn James Leyland Kirby ließ sich für dieses Album von einer medizinischen Studie inspirieren. Diese bescheinigte Alzheimer-Patienten, sich besser erinnern zu können, wenn Informationen mithilfe von Musik vermittelt würden. Und so begibt man sich mit „An Empty Bliss …“ auf eine muntere Zeitreise und schlendert gedankenverloren durch die verlassenen Flure eines Tanzlokales der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Kirby fügt Streicher-, Bläser- und Pianoschnipsel, aber auch das Rauschen und Knistern originaler Grammophonaufnahmen zu einzigartigen Kompositionen zusammen – Erinnerung als kreativer Prozess und noch dazu wunderschön anzuhören! (Constantin Rücker) |
45 |
Kurt Vile & The Violators „Smoke Ring For My Halo“ [Matador] |
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Anders als das etwas lautstärker instrumentierte Matador-Debüt „Childish Prodigy“ setzt Kurt Viles Nachfolgewerk vermehrt auf Zurückhaltung. Auf eine bisweilen sehnsüchtige Stimmung, durch seine warme Akustikgitarre in Szene gesetzt; dazu schwebende Arrangements und eine Stimme, die sich ähnlich wie Springsteen auf „Nebraska“ irgendwo in den unendlichen Weiten verliert. Weiten, die auf „Smoke Ring For My Halo“ zu verträumten Rauchwölkchen in den eigenen vier Wänden runtergekürzt werden. Man ist genügsam. Zufrieden mit sich und dem Moment: “I know when we got older, I’m dying. But I got everything I need here now and that’s fine now. That’s fine.” Was will man mehr? (Pascal Weiß) |
44 |
When Saints Go Machine „Konkylie“ [!K7] |
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Da Antony Hegarty ja nun leider nicht mehr bei Hercules & Love Affair am Mikrofon steht, müssen in Fragen exhaltierten Falsettgesangs für den Tanzflur eben andere ran. Das Herausragende an When Saints Go Machines Elektropop-Entwurf ist dabei sicherlich ihr Perfektionismus und Mut zum Artifiziellen. Zwischen queerem Club und “Minimal Music” tänzeln hier schwelende Streicher und verschachtelte Rhytmusfiguren hin und her, ohne dabei in eine verkopfte, konzeptionelle Strenge zu verfallen. Voll Überschwang und Spaß an der Sache zelebrieren die vier Dänen ihren unangestrengten Kunstwillen und zaubern dabei immer wieder elegante und luftige kleine Hits wie „Kelly“ aus dem Hut. Ähnlich natürlich und selbstverständlich verschmolzen Pop, Tanzflur und “Art” in jüngerer Vergangenheit höchstens noch bei The Knife. (Bastian Heider) |
43 |
Matana Roberts „Coin Coin Chapter One: Gens De Couleur Libres“ [Constellation] |
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Matana Roberts ist nicht der erste, aber zweifellos der mutigste Versuch des kanadischen Labels Constellation, sich abseits vom Post-Rock breiter aufzustellen. Das Experiment ist ein Erfolg auf ganzer Linie. Zwischen krachendem Avantgarde-Jazz und besonnenem Spoken Word setzt sich Matana Roberts mit der Geschichte ihrer Familie seit dem 19. Jahrhundert auseinander. „Coin Coin Chapter One“ funktioniert wie ein Schauspiel: Coin Coin wird in die Sklaverei geboren, benutzt und ausgebeutet. Über all dies singt sie so beeindruckend und einnehmend, dass man glauben könnte, hier eine Zeitzeugin zu hören, was durch die Live-Einspielung des Albums noch verstärkt zur Geltung kommt. Die stärkste Frau 2011. (Felix Lammert-Siepmann) |
42 |
Bill Callahan „Apocalypse“ [Drag City] |
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Er ist und bleibt eine Bank in Sachen Songwriting. Wagemutig, bisweilen gar tolldreist beschwört Callahan in 7 Episoden die „Apocalypse“. Die Harmonie des Vorgängers weicht einer knorrigeren Grundstimmung und ist durchweg lauter, aufregender, stärker instrumentiert. Callahan reizt sein Spektrum zwischen Vehemenz und Vorsicht komplett aus, kann aber auch wie im fabelhaften „Riding For The Feeling“ zart und elegant werden. Hintergründig, ja nicht ohne Hauch garstiger Ironie kommt hingegen „America!“ daher, und genau in diesen Grenzen bewegt sich das Album, das sich irgendwo zwischen Politik und Poesie wiederfindet und nahtlos einreiht in den denkwürdigen Kanon des ehemaligen Smog-Masterminds. So überraschend wie möglich und so kalkulierend wie notwendig. (Carl Ackfeld) |
41 |
Kuedo „Severant“ [Planet Mu] |
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Was hätte „Severant“ für eine überragende Alternative zu Daft Punks mäßigem letztjährigem Tron-Soundtrack abgegeben! Kuedos Debütalbum versprüht Breitbildfuturismus, ohne sich in einen naheliegenden Retrorahmen zu flüchten, die ehemalige Hälfte des Dubstepduos Vex’d hat sich im Heute und Gestern nach Inspiration umgeschaut. Wie Blitz und Donner zuckt über weite Zukunfslandschaften tight versträngte Perkussionsrhythmik, inspiriert von belebtem HipHop und von hochbeschäftigter Footwork-Clubmusik aus Chicago, wie sie Planet Mu auch auf zwei Compilations vorbildlich im Original dokumentierte. Dazwischen harmonisch evokative Synth-Epik à la Tangerine Dream oder Vangelis, maßgeschnitten zu Funkelriffs, die in einem Drahtseilakt mit den Beats elektrifizierte Cybervisionen heraufbeschwören. (Uli Eulenbruch) |
Zu den Plätzen 40-1:
Oh ja, feine Rezensiönchen, die gekrönt werden vom Drone-Meister Tim Hecker – macht bislang Lust auf mehr. Wenn ihr allerdings den Hecker unter den Top30 verortet, frage ich mich, wo die Grenzziehung zwischen Abseitigem und nennen wir es mal Konsens vs. Mainstream verläuft. Nicht dass ihr euch da im obskuren Bereich befindet, der doch eher dem eigenen Gusto entspricht anstatt irgendwie Geradlinigkeit vorspielt.
[AUFTOUREN-Markus] Danke für den Kommentar, Beton! Ich versuche das noch einmal etwas zu präzisieren: Die Top50 sind wie immer der Redaktionskonsens, erstellt aus den Einzellisten. Tim Hecker wurde von fast allen gehört und gemocht – und taucht entsprechend hier auf. Gleiches gilt ja für Matana Roberts oder The Caretaker, die einfach innerhalb des Teams eine gewisse Popularität erreicht haben. Eine Vorauswahl unter dem Gesichtspunkt „Bekanntheitsgrad“ gab es nicht – obwohl, und das wird sich zeigen, sicherlich die „großen Namen“ dann tendenziell auch weiter oben in der Liste zu finden sein werden.
In der „Geheimen Beute“ stellen wir euch dann ab Donnerstag 30 Alben vor, die in der Summe noch viel unbekannter sein dürften. Quasi die Spezialistentipps, die selbst für eine Konsensliste bei uns keine Chance hatten. Konsens bezieht sich dabei aber wirklich nur auf die interne Auswahl.
Wir hoffen einfach, dass die/der ein- oder andere doch noch ein paar Alben entdecken kann. Und wenn wir entsetztes Kopfschütteln ernten, dann diskutieren wir gerne hier in der Kommentarbox ;)
An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die Möglichkeit hingewiesen, bei den Lesercharts mitzumachen – da zeichnet sich dieses Jahr ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen ab.
Insgesamt schon schöne Charts, unterscheiden sich aber nur geringfügig von denen der 10000 anderen Magazine. John Maus hätte nach meinem persönlichen Geschmack durchaus höher sein dürfen.
Das liegt halt in der Natur von Konsenslisten. Wenn man den größten gemeinsamen Nenner zwischen mehr als drei Leuten (und erst recht wie hier mehr als zehn) bildet, wird man da eher weniger Obskuritäten antreffen.
Aber u.a. dafür kommt ja noch die ‚Geheime Beute‘ – und natürlich halten die Einzellisten aller Abstimmenden noch ein paar Platten bereit, die es sonst garantiert nirgendwo gibt.
Maus fand ich einen Tick schwächer im Vergleich zum damals völlig ignorierten „Love Is Real“. Weniger tollkühn, aber auch jetzt keine echte Weiterentwicklung, vor allem die Produktion wirkte stellenweise noch unentschlossen. Muss aber sagen, dass die neuen Stücke live besser rüber kamen als die anderen.
Schade, dass diesmal keine Überraschung auf der Nummer 1 ist so wie letztes Jahr. Insgesamt aber gut.
[…] der Top Ten List of Top Ten Lists of Top Ten Lists). Ganz wunderbare Listen wie immer auch bei der Crew von Auftouren, bei den White Tapes-Menschen, bei Laut.de oder der Redaktion der Spex. (Was die Magazine […]
[…] ihr damit gefülltes, selbstbetiteltes Debüt im vergangenen Jahr in den Top 20 unserer Lieblingsalben landeten, freuen wir uns natürlich sehr, den Ende dieses Monats beginnenden dritten […]
[…] mal einen kleinen Auszug aus den bisherigen Bestätigungen aufzuführen: Mit dabei sind u.a. unsere letztjährige Nr. 1 Destroyer, die noisepoppigen Fuck Buttons, Dirty Three (mit Warren Ellis und Jim White!), […]
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[…] sich nach wochenlangem Abstimmen, hochintellektuellem Debattieren und Haare ziehen endlich auf eine Jahresendliste 2011 geeinigt hat, in der sich alle einigermaßen stark vertreten […]