Wilco & Jonathan Wilson in Berlin: Netter Abend?


Block 18, Reihe 8, Platz 4. Aha, bestuhlt soll er also sein, der heutige Konzertabend. Eigentlich kaum vorstellbar, schon gar nicht bei einem derartigen Live-Gitarristen wie Nels Cline. Und tatsächlich: Diejenigen, die vermutlich 10 Euro mehr bezahlt haben, um auf den vorderen, unteren Rängen Platz zu nehmen, sollten sich noch ärgern.

Bis es soweit ist, muss allerdings erstmal der Weg zur Konzertstätte gefunden werden. Als Nicht-Ortskundiger gilt es hier aufzupassen, denn das, was Google Maps als Tempodrom ausspuckt, ist er sicher nicht. Umso erfreulicher, dass eine dreiköpfige Truppe aus Polen ebenfalls irgendwo in der Pampa umherirrt. Immerhin zu viert jetzt. Wenig später wird dank Adresse auf der Eintrittskarte klar: 2,2 km noch. Machbar. Bis zum Beginn sind noch 45 Minuten Zeit, auch wenn die sehr geschätzte AUFTOUREN-Leserin so noch eine Weile am Glühweinstand warten muss.

Jonathan WilsonDieser zusätzliche Mehraufwand lohnt sich auch schon nach den ersten Songs von Jonathan Wilson, der in diesem imposanten Zelt mit 35m hohem Dach gleich eine ganze Band mit an Bord hat. Dabei wechselt Wilson – ähnlich wie Sam Beam von Iron & Wine – galant zwischen der Rolle als wehmütiger Singer/Songwriter auf der einen und energiegeladener Jammer auf der anderen Seite.

Dies wird besonders deutlich, wenn mit „Natural Rhapsody“ im Anschluss an den Titelsong des aktuellen Albums „Gentle Spirit“ eine astreine Progrock-Nummer folgt, die in Teilen auch als Coverversion von Radioheads „Subterranean Homesick Alien“ durchgewunken werden dürfte. Es ist zwar nur eine knappe halbe Stunde – diese jedoch ebenso kurz wie kurzweilig.

Dann Pause bis zum dritten Gong. Eine offensichtlich gutgelaunte Band betritt die Bühne und eröffnet das 150-minütige Set mit dem Schlusssong ihres formidablen neuen Werks „The Whole Love“. Dabei konzentriert sich in „One Sunday Morning (Song For Jane Smiley’s Boyfriend)“ natürlich erstmal alles auf Sänger Jeff Tweedy, den von grün-blauem Licht umgebenen Countryman mit Hut, welchen er im Laufe des Abends noch so manches Mal vor dem dankbaren Berliner Publikum zieht.

Das große Treiben beginnt, denn selbst bei den langsamen Nummern sind Wilco irgendwie nichts für Stühle. Nach und nach verlassen die Zuschauer ihre Sitzplätze, begeben sich in Richtung Bühne. Das Motto: Wer schnell ist, kann noch einen Platz ganz vorne ergattern. Links der grauhaarige Gymnasiallehrer mit Frau, der noch nicht so recht einzuordnen weiß, wie sich der geplante nette Abend denn nun entwickeln wird, rechts das blonde Mädel, das gerade ihr Studium begonnen hat und in ihrem neuen Freundeskreis langsam aber sicher ihre Emo-Spuren wegwischen möchte.

Beim anschließenden „Poor Places“ ist der Mittelgang zwischen den vorderen knapp 20 Reihen komplett dicht. Genau passend zum schnell als Klassiker etablierten Kraut-Irrsinn von „Art Of Almost“. Überhaupt wird in diesen Momenten überdeutlich, was für ein riesiges Repertoire Wilco angehäuft haben. Insbesondere, weil sie mit „The Whole Love“ ihr vielleicht bestes Werk seit „A Ghost Is Born“ vorgelegt haben.

So verwundert es nicht, dass sich die Setlist zu großen Teilen aus Klassikern bis zum Jahre 2004 und Stücken des neuen Werks zusammensetzt. Gleichberechtigt nebeneinander „I Am Trying To Break Your Heart“, „Company In My Back“ oder „I Might“ – alles erfreulich wenig weit weg von ihrem 2005er Live-Koloss „Kicking Television“. Da verzeiht man Tweedy & Co auch, dass sie ausgerechnet an diesem Abend nicht „At Least That’s What You Said“ spielen, auch wenn wohl jeder der Anwesenden gern das Gitarrensolo von Cline gesehen hätte.

Davon kommen aber auch so genug, allen voran in „Impossible Germany“, wenn das Publikum schon dreimal während des mehrminütigen Solos ausgelassen klatscht, Cline aber längst woanders ist, das verraten seine Gesichtszüge. Tweedy wackelt dazu im Hintergrund ein wenig mit dem Kopf hin und her, ein dezentes Grinsen ist ihm abgerutscht. Doch auch Drummer Glenn Kotche soll noch seinen Moment bekommen: In der immerhin halbstündigen Zugabe, die mit dem großartigen „Via Chicago“ beginnt, richtet er sich mit unmissverständlicher Metal-Pose auf, die Lichter auf ihn gerichtet. Man ahnt was kommt. Und ja, „Heavy Metal Drummer“ begeistert ebenso wie die völlig zerfetzte Version von „Misunderstood“. Viel mehr Rock’n’Roll als manch einem links neben uns lieb ist. Nein, das ist längst kein netter Abend mehr.

4 Kommentare zu “Wilco & Jonathan Wilson in Berlin: Netter Abend?”

  1. Lennart sagt:

    Mhm… ich sah Wilco im letzten Jar in der bestuhlten Hamburger Musikhalle, und das war großartg, gerade weil es bestuhlt war. Lag vielleicht aber auch einfach an der Location, eben einem wirklichen Konzerthaus.

  2. Felix sagt:

    Jap. Etwas besseres als Wilco + bestuhlt kann ich mir auch kaum vorstellen :)

  3. Pascal Weiß sagt:

    Also für bestuhlt haben sich die Leute ganz gut bewegt;)

  4. […] als zelebrieren. Manchmal ist es gar nicht gut, wenn eine Band zu eingespielt ist. Anders als noch vor einigen Monaten in Berlin ist die Spielfreude an diesem Abend jedenfalls ein wenig auf der Strecke geblieben. Aber einen […]

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