„Rifts“ – „Returnal“ – „Replica“. So geht die Reihenfolge der abendfüllenden Veröffentlichungen Daniel Lopatins. Seit 2009 ist dessen Soloprojekt Oneohtrix Point Never einer der hellsten Sterne am Dronehimmel, irgendwo zwischen Emeralds und Leyland Kirby. „Rifts“ war damals ein ordentliches Brett von zweieinhalb Stunden Spielzeit. Aber auch „Returnal“ versetzte seinen Hörern im letzten Sommer einen ordentlichen Schlag in die Magengrube. Allein dessen Auftakt war ein erbarmungsloses, verstörendes Etwas von schier endlosen fünf Minuten Länge und zeugte von der Unerbittlichkeit dieses Projektes. Schon damals ahnte man, dass Oneohtrix Point Never seinen Hörern noch einiges abverlangen würde.

Nun beginnt „Replica“ jedoch beinahe versöhnlich. Gekeife und Gekreische bleiben zunächst aus und es vergehen Minuten des gespannten Hörens, bevor tatsächlich dunkle Wolken am Horizont aufziehen. Kreischende Vögel verdecken die Sonne und so gleitet man hinab in eine bedrohliche Welt, in der plötzlich nichts mehr seine Ordnung hat. Unmöglich zuzuordnen was warum woher ertönt. Stimmen, Silben und Seufzer erheben sich – bis zur Unerkenntlichkeit abstrahierte Schnipsel aus Werbefilmen der 80er und 90er Jahre. Eine sich niemals erschöpfende Lawine albtraumhafter Assoziationen bricht über den Hörer herein, denn „Replica“ ändert innerhalb von Wimpernschlägen seine Form und Farbe. Es windet sich, lässt sich kaum fassen. Und findet man doch einmal Halt in diesem verzerrten Labyrinth überbordender Phantasie, verliert man ihn bald wieder, da jede Ahnung einer Melodie sich nach Augenblicken bereits verflüchtigt. Beklemmendes Rauschen, endlos verzögerte Pianotupfer, und bereits im nächsten Moment gibt die vollkommene Klarheit den Blick auf die Sonne wieder frei.

Dass Lopatin auch anders und vor allem poppiger kann, hat er unlängst mit seinem Nebenprojekt Ford & Lopatin bewiesen. Dessen Einfluss ist kaum zu leugnen und scheint das gesamte Sounddesign Oneohtrix Point Nevers verändert zu haben: weg von den reinen Synthesizerloops der Anfangstage, hin zu einem meisterhaften Sampling; weg von klassischen oder wenigstens erkennbaren Songstrukturen, hin zu Bergen von verdichtetem Chaos. So fällt es schwerer als jemals zuvor, eine Balance in diesem Werk auszumachen, aber selbst dies gelingt Lopatin überzeugend. Beispielsweise befinden sich an vierter und viertletzter Stelle mit „Remember“ und„Submersible“ Inseln der Stille und Einkehr im meist aufgekratzten Kosmos von „Replica“. Dank ihres harmonischen Pianoeinsatzes bilden die Stücke „Power Of Persuasion“, „Replica“ oder „Up“ quasi die Schönheit der Welt ab und damit den Gegenpart zu „Sleep Dealer“, „Nassau“ oder „Child Soldier“. Diese stehen für das entgegengesetzte Prinzip, das paranoide Durcheinander eben jener.

Überhaupt erscheinen plötzlich alle erdenklichen Gegensätze auf „Replica“ nebeneinander. Allein schon „Child Soldier“ verdeutlicht diese Tendenz und entwickelt bei genauerer Bemusterung beinahe Hörspielqualitäten. Fast fühlt man sich zurückversetzt in ein beliebiges Kinderzimmer der späten 90er Jahre. Gerade noch ertönen Kampfgeschrei und Laserblitze aus dem Amiga, schon mischt ein Kinderchor sich darunter, bevor tatsächlich der Endgegner erscheint. Allzu verkopft könnte man dies als ein auditives Statement Daniel Lopatins deuten, als eine Antwort auf eine Welt voller Kindersoldaten auf der einen und Krieg spielender Kinder auf der anderen Seite. Somit scheint dieses Stück exemplarisch eine Grundtendenz von „Replica“ abzubilden: Es verdeutlicht, dass Lopatin nichts Geringeres versucht, als das maßlos Entgegengesetzte in diesem 40-minütigen Fiebertraum miteinander zu vereinen. Dabei scheint er frei von allen Skrupeln, verbindet er doch Ordnung und Chaos, Harmonie und Dissonanz, Schönheit und Hässlichkeit oder Vergangenheit und Zukunft geradezu spielerisch miteinander. Alles findet seinen Platz und so erscheint dieses Album letztlich wie eine Replik des Lebens selbst, und damit auch wie ein Spiegelbild des nahenden Todes, der ständig hinter allem lauert.

80

Label: Cooperative

Referenzen: Leyland Kirby, James Ferraro, Laurel Halo, Emeralds, Ford & Lopatin

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VÖ: 04.11.2011

2 Kommentare zu “Oneohtrix Point Never – Replica”

  1. […] vom britischen Wire-Magazin veranstaltete Gespräch zwischen James Ferraro und Daniel Lopatin (aka Oneohtrix Point Never). Beide hatten im zurückliegenden Kalenderjahr zwei der spannendsten Popentwürfe seit langem […]

  2. […] zu erklären, dass beispielsweise dem betäubenden Auftritt Tim Heckers und Daniel Lopatins (aka Oneohtrix Point Never) in der gotischen St. Katharinenkirche beinahe eintausend Menschen beiwohnten. In Anbetracht der […]

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