Reib (VI): Wendepunkte

Reib (VI): Wendepunkte

Es kommt, wie es kommen muss: Immer drei, vier Stufen auf einmal, dann am oberen Ende der Treppe zum Gleis 6 das vertraute Piepen der S-Bahn-Türen. Eigentlich der Zeitpunkt, an dem Reib blitzartig das Tempo verringert, sein Handy rausholt und lässigen Blickes an den Gesichtern der anderen Wartenden am Bahngleis vorbei schaut. Man will sich hier ja nicht zum Affen machen.

Aber es geht um Jana. Und so hastet er zur Tür, dass die Flaschen in seiner Plastiktüte allein schon ordentlich Aufmerksamkeit erregen. Zu spät, alles verriegelt, das kleine Licht des Türöffners erloschen. Noch ein paar Lacher von den Leuten auf der anderen Seite der Tür, dann das langsame Anfahren der Bahn. Auf die Sekunde genau, so zeigt die Bahnhofsuhr an. Und von oben herab die hämische Anzeige, vorsorglich informierend: „S2 nach Dortmund – wenige Minuten später.“ Is’ klar.

Zu allem Überfluss ertönt hinter ihm verdächtiges Gemurmel und Gemecker einer Gertrud: „Geschieht Ihnen ganz recht. Diese jungen Leute von heute. Immer in Hast, alles auf den letzten Drücker. Dann ist der Zug eben irgendwann abgefahren“, sagt sie verächtlich. Das hat gerade noch gefehlt.

Als wäre das alles noch nicht Hohn und Spott genug, dreht er sich um und erkennt die schnepfend von dannen stolzierende „junge“ Frau sofort wieder: die Dame mit den Pritt-Stiften. Besser hätten die Vorbereitungen für den Abend nicht laufen können. Reib hockt sich ausgelaugt auf die Bank. Wenigstens die Flaschen sind noch heil. „Wenn Du hier nicht zum Trinker wirst.“

Er nimmt einen kräftigen Schluck und schaut auf sein Handy. „Also, anrufen und den Ärger direkt kassieren? Oder diesen mit einer entschuldigenden SMS noch ein wenig nach hinten verschieben? Wobei man ziemlich sicher sein kann“, denkt Reib, „dass selbst bei einem Telefonat noch eine anständige Ansage folgen würde, sobald er in Dortmund ankommt. Effizient ist das nicht. Also, SMS – und dann einfach hoffen, dass es nicht so schlimm wird?““

Irgendwie ablenken. Reib kramt den MP3-Player raus. Erstmal was Rockiges, Aufpäppelndes. Gary Clark Jr. kommt da gerade richtig, diese Hendrix-Gitarren, die tun jetzt gut, sorgen für Aufmunterung und verschwimmen in den Lichtern, die der anschnellende ICE über die Gleise jagt. „Eine Art Disco-Effekt“, denkt Reib beim zweiten Schluck, „auf dem Land würden sie sich wieder beschweren, da werden deshalb ganze Windräder abgerissen.“

Just in diesem Moment findet er die Lösung: „Jetzt zum anderen Bahngleis sprinten, in den ICE nach Dortmund, das bringt`s. Und dann ist dieses ganze SMS-Problem auch vom Tisch.“

Und wieder geht es fluchtartig die Treppe runter und zum anderen Bahngleis hoch, abermals klimpern die Flaschen fröhlich vor sich hin: „Hoffentlich steht die besserwisserische Alte jetzt nicht wieder da.“ Dieses Mal hat Reib Glück, die Türen sind noch auf. Schnell einen Blick auf den Schaffner, „sehr gut, am anderen Ende. Das könnte reichen bis Dortmund. Bei meinem Glück.“

Tatsächlich schafft er es ohne Kontrolle bis zum Ziel. Aus betriebsbedingten Gründen fünf Minuten später als geplant, egal, da sollte es keinen allzu großen Ärger geben. Erst recht nicht, wenn man Jana klarmacht, welche Strapazen man auf sich genommen hat.

Eine wie immer sehr herzliche Umarmung leitet das, naja, Date, ein, als sich die beiden an der Treppe zum S-Bahn-Gleis treffen: „Hey Reib, dachte, Du würdest auf Gleis 6 ankommen.“

„Ja, gab ein paar, sagen wir mal, Komplikationen, denen ich aus dem Weg gehen musste. Aber da ich nicht zu spät kommen wollte, habe ich mich illegalerweise in den ICE geschmuggelt. Für Dich, sozusagen.“

„Hör auf, mir wird gleich schlecht.“

„Nein ehrlich, Jana. Musste in Oberhausen noch ein paar …“

„Hast Du den Sekt dabei?“

„Ja klar. War das Erste, das ich in meinen Rucksack gepackt habe. Ist allerdings auf der Fahrt warm geworden.“

„Und ich dachte schon, Du wärst deswegen zu spät dran und hast den Anschluss nicht bekommen.“

„Ach, was.“ Reib reicht ihr den Sekt und blickt in ein zufriedenes Lächeln. „Wo soll es eigentlich hingehen, Jana?“

„Wollen wir zum Walter an den Kanal-Strand? So, erstmal anstoßen, schließlich haben wir heute Jahrestag, wenn man so will. Naja, jedenfalls kennen wir uns jetzt immerhin neun Jahre.“

„Stimmt“, entgegnet Reib, sichtlich gelöst, nachdem er den Abend anscheinend doch noch mal rum gerissen hat. Anscheinend. Er öffnet die Flasche mit einem lauten Knall, als sie durch den winzigen Park am Nordausgang laufen.

Jana nimmt ihn fröhlich pfeifend in den Arm, trägt den Sekt in der Linken, knibbelt gedankenverloren am Preisschild und blickt Reib dann plötzlich tadelnd an: „Sag mal, Reib, warst Du im Zuge Deiner, wie sagtest Du so schön, Komplikationen im Oberhausener Bahnhof zufällig beim dm?“

„The Bright Lights EP“ von Gary Clark Jr. ist am 08.08.2011 via Warner erschienen.

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