Reib (IV): Wilco & die Wunden der Vergangenheit

„Ja, mit dem Mist fing alles an. Durfte dann erstmal aussteigen und draußen im Regen – wo kam der eigentlich auf einmal her? – die Rillen in den Schuhen wieder frei kratzen. Mit der Rückseite eines Plastiklöffels. Das zieht sich, kann ich Dir sagen. Mann, echt voll rein.“
Reib schaut nachdenklich über die kniekehlenhohe grüne Wiese, den Blick auf den Mathe-Tower der TU Dortmund gerichtet. Das letzte Zucken des Spätsommers. Auf dem rechten Ohr die neue Wilco, so gut! Noch mal von vorne? Gegen die Prinzipien.
OK, zumindest einen Song, so viel Spielraum bei der Regelauslegung ist drin. „Immer auf dem rechten Ohr, das funktioniert besser als das linke, das bekomme ich sonst nicht umgedacht, ganz seltsam, da muss ich mich total konzentrieren.“
Ludwig stört es nicht. Einer aus dieser Randgruppe, die sich nicht in ihrer Wertschätzung angegriffen fühlt, nur weil jemand auf einer Seite Musik hört. Im Gegenteil. Diese Verbindung zwischen Musik, Ort, Geruch, Temperatur – manchmal tritt diese Konstellation in ganz ähnlicher Weise Jahre später wieder auf. Und dann ist er für kurze Zeit wieder da, dieser Moment. Noch intensiver als ein Déjà-vu.
Genau wie jetzt, wenn die angenehme Kühle des Abends das erste Mal seit langem den Herbst andeutet. Der Geruch des vergehenden Sommers, gleichzeitig die Gemütlichkeit, die die langsam abdunkelnde Jahreszeit für die Zweisamkeit bereithält. Die Hektik ist verflogen. Selbst die Allergien haben keinen Mumm mehr.
Reib träumt noch eine Weile zu „Born Alone“ vor sich hin. Verschleierte Wolkenmuster am Himmel. Und wieder diese Ahnung von vergangenen Zeiten. Sonja. Als „Yankee Hotel Foxtrot“ die letzte/erste (wie man will) ernstzunehmende Beziehung begleitete. Es war Anfang September 2002, der wilde Start in Dortmund nach einem faden Jahr als Zivi in der Heimat.
Im September danach, ganz so, als müsse man die Ekstase nach Ablauf der Jahresfrist übertrieben horrend entlohnen, hieß das Album des Jahres „The Meadowlands“. Diejenigen, die es kennen, wissen Bescheid. Allein „Happy“, das all diese Verzweiflung und grotesken Abwehrmechanismen in sich trägt:
„Aren’t you happy now? Got what you want. I wanted you. But I’m over that now. I’m over that.“
Wie er damals da saß und sich diese letzten Worte immer und immer wieder einredete. Und es mit jedem Male schlimmer wurde, der Gesichtsausdruck zunehmend verzerrter. Neun Jahre zurück, doch dieser Augenblick jetzt gerade – als wäre all das wieder da.
Es war die Zeit der großen Verbitterung, in der die Vergangenheit die Gegenwart (unt)erdrückte. Seitdem die erfolgreich eingeredete Unfähigkeit zu lieben. Allein schon aus Angst vor dem zweiten Mal. Wie feige eigentlich. Und was das alles mit Jana zu tun hat. Schluss jetzt.
Ein Schluck täte ganz gut, das hat er glatt vergessen. Im Hintergrund die lediglich angedeutete Abendsonne, hinter Wolkenfäden gezwungen, Teile ihrer Ausstrahlung einzubüßen.
Ludwig sitzt neben ihm und genießt die erste freie Stunde des heutigen Tages, „So ein Chemiestudium ist anstrengend und verlangt abends nach Ablenkung“, das betont er gern. Es ist ihm immer etwas unangenehm, wenn Reib so nachdenklich, so sensibel wird. Das ist nicht sein Ding.
„Und wie ging es dann weiter?“
Reib wird aus den Gedanken gerissen. Ein hastiger Schluck, dann fährt er fort: „Dann zu allem Überfluss dieser Anruf.“
„Was für ein Anruf?“ fragt Ludwig stutzig, während er mit seinen Fingern den Haufen von Locken am Hinterkopf unbewusst noch weiter eindreht.
„Naja, ihre WG-Mitbewohnerin, Anni, hat sich bei mir gemeldet. Keine Ahnung warum jetzt ausgerechnet bei mir. Alles was ich noch verstand, war Janas alternde Katze wäre unter die Räder gekommen. Gerade dann kackt zu allem Überfluss der Akku ab. Kannst Dir ja vorstellen, was auf einmal los war. Jana und ihre geliebte Katze.
Ludwig schnipst den Kronkorken, den Mülleimer knapp verfehlend. Fragend sieht er Reib an, in voller Erwartung, dass es nun weiterginge.
Das tut es: „Jaja, diese Smartphones und der Akku, ein leidiges Thema.“
„Und?“
„Wie, und?“
„Ja, ist sie tot? Die Katze?“
„Kann man nicht anders sagen.“
Wilcos superbes neues Album „The Whole Love“ erscheint am 23. September via Anti-.
„The Meadowlands“ von den Wrens darf getrost zu den Klassikern des letzten Jahrzehnts gezählt werden. Es erschien in den USA am 09. September 2003 via Absolutely Kosher, hierzulande übrigens erst gut zwei Jahre später (25.11.2005).
Diese Aussicht kommt mir bekannt vor;) Die Vergangenheit, manchmal haut sie einen echt um. Trauer in gewisser Weise hat ja auch was Schönes hin und wieder.
Da fällt mir spontan Hermann Hesse zu ein …“Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe, bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“…