Der Liedschatten (37): Bergesseelen aus aller Welt

Was für ein schöner Gedanke dem Autoren da doch gerade kam: Beim Liedschatten könnte es sich doch um so eine Art Bildungsroman handeln, ja. Immerhin ist er chronologisch gegliedert. Und da es aufgrund der Fülle des Stoffs schier unmöglich sein dürfte, ihn mal eben einfach so zu überblicken und anschließend erst zu schreiben, nimmt, wer den nach und nach entstehenden Liedschatten verfolgt, an der Entwicklung einer Person, die nicht unbedingt der Schreibende ist, sondern dieser als Autor, teil.
Da hat eben dieser nämlich gar keine Lust mehr darauf, er selber zu sein, da müsste er sich mit so viel Ausgesprochenem, aber nie Vollendetem befassen, Widersprüche auflösen und mit einem Eifer bei der Sache (jeden bisherigen Nummer-Eins-Hit der BRD abzuhandeln) sein, der, wäre er stets wahr und empfunden, ein klein wenig merkwürdig erschiene.
Ein Bildungsroman kann es aber doch nicht sein. Wie sollte das auch gehen, bei der Form hier? Es fehlt eine Handlung, so humanistisch-bildungsbemühte Inhalte, okay, die sind da, aber eben keine Erzählung. Ein wirklicher Roman, und gar ein augenzwinkernd der Bildung gewidmeter wie der großartige „Zauberberg“, der größte Spaß der deutschsprachigen Literatur? Nein, damit hat all das hier nichts zu tun, kann es nicht, wird es nicht. Der Autor selbst aber könnte ein wenig mehr Eigenleben erhalten, als literarische Figur, Protagonist sozusagen. Wir sind hier ja nicht bei irgendeiner Geschichtsstunde, das kann niemand nicht verlangen wollen. Was soll man denn auch Erzählen über „Oh My Darling Carolina“ von Ronny, nur so als Beispiel? Nichts über den Autoren und sein Verhältnis zum Stück. Vielleicht aber über irgendwen anders.
Ronny “Oh, My Darling Caroline”, April – Juni 1964
„Verehrter Herr Roloff,
mein Name ist Maik Plechschmitz. Ich wurde am 25.05.1974 in Kämmerlingswalten im östlichen Erzgebirge geboren. Direkt an meinem Geburtshaus fließt der Schnackwalder Arm des Böberitzscher Weihersprengsels, bevor er sich nach ungefähr einem Kilometer in die Schlagemausener Flötzelschlucht ergießt, wo auch heute noch zwei intakte Schwarmkrug-Turbinen den interessierten Wandersmann zu lehrsamer Rast einladen. Waren sie es, deren Verdienst mir so sehr imponierte, dass mir nichts größer erscheinen konnte, als ihnen nachzueifern? Oder war es das sanfte Murmeln des Schnackwalder Arms des Böberitzscher Weihersprengsels? Die Liebe zu meiner Großmutter, ihren Lieder und Geschichten von den blasfüßigen Schwämmerzwergen, der Hirse zählenden Frau mit dem Bärenhaar, über all die Bergmännlein, Holzfrauchen und Moosmännchen? Immer sang sie mir Lieder, die gute Alte, nicht nur zur Weihnachtszeit, und wie vertraut sind mir Zeilen wie „Mer hahm d’n Lächter a’gebrannt / satt nuf, ihr Mäd, die Pracht / Do drühm bei euch, is a recht fei / ihr hot ’ne Sau geschlacht“ noch heute!
Doch nein, all das erklärt nicht, warum ich mich zum Musikus berufen fühle, die Berufung sprach zu mir erst in meinem dreiundzwanzigsten Jahr, in fremden, ja sogar fast schon fremdländischen Zungen.
Wie sagte es doch einst ein guter Freund zu mir? „Ronny ist einzigartig! Es kam und wird nie ein anderer Sänger in seinen Schatten kommen!“
Bis zu meinem 21. Geburtstag gebot mir mein seliger Vater stets, mich von allzu welt- oder westlicher Musik, das war für ihn dasselbe, fern zu halten. Als die ersten Kumpels in Discos gingen und mit Mädchen redeten und anschließend, beinahe im selben Augenblick schon, zu tanzen anfingen, war ich nicht dabei. Weshalb es mir leicht fiel, all das, wie mir mein Vater versicherte, für Lügen zu halten, deren unchristlicher und entwurzelter Spott dem edlen Bergmannswalten unserer Vorväter galt. „Die hatten auch keine amerikanischen Kreissägen (er meinte E-Gitarren), und doch führten sie ein erfülltes, weil ehrbares Leben im Schatten der Berge. Warum sollte uns etwas anderes gebührlicher sein, Sohn?“
Ach, er hatte Recht, und auch, wenn sich darauf meine ganze Mannheit, mein ganzes Leben gründet und ich anders vielleicht gar nicht meine geliebte Frau kennen gelernt hätte, ein wenig reut es mich doch, wie ich heute lebe.
Doch beginne ich besser von vorne: ich war beinahe dreiundzwanzig, als mich ein Freund meines Vaters mit nach Tannwold-Gurgenfold mitnahm, wo ich die Stelle eines Schwibbogen-Schwobbiegers annehmen sollte. In seinem neuen Golf-Automobil lief eine Kassette, auf ihr befand sich „Oh, My Darling Caroline“ von Ronny. Die Geschichte schien mir vertraut, der Waldesrain, Liebesglück, wie ich es mir erhoffte, selbst die Düsternis der Geschichte war mir, der ich am Fuße der Nadelwaldes empor sproß, vertraut. Auf der Rückfahrt bat ich ihn, mir die Kassette zu leihen. Er schenkte sie mir lachend mit der Versicherung, er könne sie mir gleich ganz überlassen, denn wenn mein Vater sie entdeckt, dann landet sie eh gleich im Schnackwalder Arm des Böberitzscher Weihersprengsels. Und sowieso, wenn er das nächste Mal zu den Tschechen rüber mache, werde er mir gleich noch so eine von dort mitbringen, und gleich noch ein bisschen Karlsbader Becher-Bitter, es sei ja eine Schande, in welchem Zustand mich mein Vater hielte … bei diesen Worten bat ich ihn, mich abzusetzen.
Die nächsten Wochen sahen mich aufgebracht und ausgezehrt. Das Moped, das ich mir durch meine Stelle als Schwibbogen-Schwobbieger kaufen konnte, nutzte ich nicht nur, um zur Arbeit zu fahren. Ich fuhr Mädchen hinterher, was in einem kleinen Dorf recht schnell auffiel, und besuchte meinen Kumpel, da er ein Kassettenabspielgerät besaß. Er wies mich dann auch darauf hin, dass es sich bei „Oh My Darling Caroline“ um ein amerikanisches Volkslied handelte – eine Welt brach zusammen. Ein Besuch in der Auer Stadtbibliothek bestätigte dann alles: Ronny, das war, trotz des anheimelnden Namens (viele meiner Freunde heißen Ronnie, Mirco oder Toni) kein Ostdeutscher, sondern ein Westdeutscher, und ja, er sang ein amerikanisches Lied, wenn auch mit einer anderen Geschichte. Ich war untröstlich. Was tat ich mir, was meinem Vater an?
Doch es gab kein Halten mehr, andere Kassetten folgten. Freddy Quinn, Peter Alexander, ja, sogar die Lords legten mir einen Zauber auf und ich begann zu singen, zu schreiben.
Meine Wurzeln aber wollte ich nicht verleugnen, lockte mich auch die Fremde, so war ich doch stets bemüht, volkstümlich zu bleiben. Dabei aber wollte ich die Völker unter dem sanften Joch der Musik vereinen, die väterliche Liebe in etwas Neues verwandeln. So entstanden, verehrter Herr Roloff, die beiliegenden Tonbandaufnahmen.
Ich weiß, dass Sie nach ihrer Karriere als Ronny als Plattenproduzent für Heintje tätig waren, Sie meine Gefühle deshalb sicher zu teilen vermögen und bitte Sie um eine ehrliche Auskunft: können Sie sich Aufnahmen mit mir vorstellen? Es muss ja nicht gleich mein ganzer Liederzyklus „Bergesseelen aus aller Welt“ sein, sollten Sie, und das könnte ich verstehen, Bedenken haben, erst einmal eine Single produzieren wollen, möchte ich Ihnen hiermit mein Vogesenlied vorschlagen („Wo seid ihr denn gewesen? / wir war’n in den Vogesen / wo mächtges Bergeswesen / gewesen ist und bleibt / wie gestern, so auch heut’“), da es mir sehr am Herzen liegt. Hier tritt nämlich, ich hoffe, Sie verzeihen mir das Eigenlob, der völkerverbindende Charakter meiner Musik klar zutage.
Sie sollten das verstehen und wer weiß, vielleicht kann ich das, was Sie einst für mich taten, auch für andere tun?
Hochachtungsvoll
Maik Plechschmitz“
Ach herrje, du stellst dir ja jeden, dem solch ein Liedchen gefällt, als psychotischen Volldeppen vor. Das halte ich dann doch für eine gewagte These.
Weniger gewagt hingegen dünkt es mir, über die Art und Weise nachzugrübeln, wie man über Musik schreibt und inwieweit man biedere Fakten durch bunte Fiktion ersetzt. Darüber grüble ich auch intensiv, die Form des brieflichen Ausdrucks ist von dir sicher klug gewählt. Allein deine Figurzeichnung erachte ich dann doch als zu grobschlächtig. Aber das mögen andere Leser ja anders beurteilen. Bin auf alle Fälle gespannt, wohin die Entwicklung des Rezensenten dich noch führt.
Das hat dieses Mal aber lange gedauert, Christoph (-:
Und was den Menschen im Text anbelangt, so handelt es sich dabei, wie sein Ausdruck zeigt, mitnichten um einen Volldeppen, sondern eine von mir als knuffig empfundene Figur. Obendrein ist’s, obwohl ich mir sonst nicht getrauen würde, zu sagen, ich könne so etwas, Satire. Als Deppen mag ich nur hinstellen, wen ich für einen Deppen halte. Ansonsten ist der erste Abschnitt mal wieder Koketterie.
Besser spät als nie :-) Bin momentan von Zeitmangel geplagt.
Hmm, ich seh die Figur eher nicht knuffig, vielmehr als Knilch. Aber Sympathien liegen ja im Auge des Betrachters. Dein Augenzwinkern ist mir übrigens durchaus aufgefallen. Nochmals zum Lied: Hab mir heute die Lieder zum Bundesvision Song Contest angehört und dazwischen den werten Ronny. Den empfand ich durchaus als Wohltat nach Frida Gold, Thees Uhlmann und Konsorten.
Mhm, klingt nahvollziehbar, zumindest müsste auch ich da nicht lange überlegen, wo die Sympathien liegen.
Ah, eine Sache noch, die mir wichtig ist: „Bin auf alle Fälle gespannt, wohin die Entwicklung des Rezensenten dich noch führt.“ Das freut und ehrt mich, aber, und das sollte ich dann vielleicht noch einmal betonen, ist das hier eine Kolumne mit Aufhänger (Nummer Eins Hits. Rezensionen würde ich vermutlich schon anders angehen.
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