AUFTOUREN beim Sónar Festival

Nur wenige Wünsche schien das Line Up in diesem Jahr offen zu lassen. Es hätte kaum abwechslungsreicher sein können, bot ebenso anspruchsvolle wie massenkompatible Kost. Gelockt wurde unter anderem mit den Auftritten von Janelle Monae, How To Dress Well, Nicolas Jaar, Four Tet, M.I.A., The Human League oder Dizzee Rascal. Vielleicht gibt es in Sachen elektronischer Musik in Europa kein renommierteres Festival als das Sónar. Immerhin wurde für das Eröffnungskonzert sogar Steve Reich höchstpersönlich gebucht. Das Abschlusskonzert bestritten drei Tage später Alva Noto & Ryuichi Sakamoto. Wer da vorab keine hohen Erwartungen hatte, war selbst schuld.

Beide Rahmenveranstaltungen waren allerdings im stattlichen Preis von 155€ nicht inbegriffen. Mindestens ebenso schade war auch der Umstand, dass Steve Reich seinen Platz hinterm Klavier selbst nicht einnehmen konnte. Der 74-jährige musste aus gesundheitlichen Gründen absagen und wurde vom spanischen Pianisten Carles Santos vertreten. Aber auch ohne die Anwesenheit des Komponisten wurde das Auftaktkonzert zu einem einmaligen Klangerlebnis für die Zuhörer und einer Belastungsprobe für die ausführenden Musiker. Zuzusehen, wie diese geradezu sklavisch ihren Aufgaben nachgehen mussten, um die Stücke originalgetreu aufzuführen, war das reinste Vergnügen. Minimalste Akzentuierungen und Veränderungen wurden plötzlich nicht mehr ausschließlich hörbar, sondern während der Aufführung der Minimalismus-Klassiker „Music For 18 Musicians“ und „Sextet“ geradezu sichtbar. Wieso dabei fast die Hälfte aller Sitze im holzvertäfelten Auditorium leer geblieben war, war am Ende dieses Abends eine der wenigen offenen Fragen.

Mit dem eigentlichen Festival hatte diese Auftaktveranstaltung freilich wenig gemein. Die Vielzahl der Konzerte fand auf zwei anderen Geländen statt: einem für die Tagesveranstaltungen im Zentrum der Stadt, angesiedelt im Museum für Moderne Kunst mit liebevoll gestalteten und Kunstrasen ausgelegten Arealen; und einem außerhalb der Stadt auf einer riesigen, monströsen und vollkommen unpersönlichen Anlage für die Abendveranstaltungen. Immerhin gab es hier vor einer der Bühnen einen Autoscooter, was dem Ganzen immerhin ein gewisses, eigenes Jahrmarktflair verlieh, aber gleichzeitig auch etliche unsägliche Assoziationen an prollige Kleinstadtromantik aufkommen ließ. Kein Wunder, dass weit und breit nur Bilder des weitaus sympathischeren Tagesgeländes existieren.

Dort eröffnete beispielsweise Toro Y Moi das Festival am Donnerstagnachmittag als erster namhafter Act, wusste jedoch leider nicht nachhaltig zu überzeugen. Es folgten die mitunter berauschenden Auftritte von Little Dragon, Tyondai Braxton, Actress oder jener Nicolas Jaars. Dieser wusste besonders aufgrund des starken Zusammenspiels der vier Musiker zu begeistern, deren Performance eine schier unglaubliche und druckvolle Dynamik entwickelte, die dem aktuellen Album des gebürtigen Chilenen in nichts nachstand. Andere extravagante Projekte, insbesondere Martin Messiers´ Sewing Machine Orchestra, boten dagegen vor allem reichlich Angriffsfläche für Kritik. Oder musste man ein Nähmaschinen-Orchester tatsächlich gut finden, weil man sich gerade in einem Museum für moderne Kunst befand? Die meisten Besucher interessierten sich ohnehin für die weitaus tanzbareren DJ-Sets unter der spanischen Sonne. Allen voran Four Tet oder Agoria waren hierbei herauszuheben und stimmten die Massen vortrefflich auf die folgenden Abendveranstaltungen ein.

Dort konnte man an diesem Wochenende ebenso 80er-Heroen wie The Human League, mit ihrem Überhit „Don´t You Want Me“, bestaunen, wie auch M.I.A., Katy B oder die Südafrikaner von Die Antwoord. Schon bald wurde dabei jedoch das größte Ärgernis des gesamten Festivals offenbar: Kaum ein Auftritt des „Sónar by Night“-Programms wurde nicht durch einen fast schon unerträglich schlechten Sound getrübt. Gegen die Lautstärke halfen meist noch die herkömmlichen Oropax, gegen die maßlos übersteuerten Bässe war jedoch kein Kraut mehr gewachsen. So eine Gleichmachung verschiedenster künstlerischer Darbietungen hatte ich persönlich noch nie erlebt. Egal ob Aphex Twin, Dizzee Rascal oder Underworld, sobald der Rhythmus sich auch nur annähernd glich, war kaum mehr zu unterscheiden, wer da überhaupt auf der Bühne stand. Nicht selten legte dann nur noch das Bild auf einer der zahllosen Leinwände Zeugnis von der Identität des Künstlers ab. Geschätzte Feinheiten, wie beispielsweise in der Stimme Dizzee Rascals, gingen in diesem Bassgewitter aber einfach nur unter. Dem vermeintlich hohen Anspruch dieses Festivals wurde das keinesfalls gerecht. Die breite Masse störte sich daran freilich nur wenig und wackelte kräftig mit dem Hintern zu Buraka Som Sistema oder tanzte zu Paul Kalkbrenner, der in Sachen popkulturellen Personenkult europaweit inzwischen in eine neue Dimension vorzudringen scheint. Derartige Auftritte wurden von Zehntausenden frenetisch gefeiert. Für Menschen mit Platzangst müsste es nach Mitternacht daher ebenso unerträglich gewesen sein, wie ohne Oropax.

Selbstverständlich gab es aber auch anderes, Erfreulicheres zu berichten. Beispielsweise gehörten die Auftritte von Cut Copy oder Janelle Monáe zu den großen Highlights der vergangenen Tage. Besonders Monáe gelang der schwierige Spagat zwischen anspruchsvoller Musik und Unterhaltung dabei vortrefflich. Sie krönte ihre Performance nicht nur mit einer Coverversion des Jackson-5-Klassikers „One More Chance“, sondern auch dem obligatorischen Moonwalk. Ebenso überzeugend war anschließend auch der Auftritt von Africa Hitech. Stunden zuvor hatte Mark Pritchard noch mit seinem Ambientprojekt Global Communication auf der Bühne gestanden und bewies am Abend, dass sein neues Unternehmen auch live noch zu den verborgenen Schätzen elektronischer Musik im Jahre 2011 gehören muss. Die wahren Highlights spielten sich allerdings mehrheitlich abseits dieser großen Bühnen ab.

Beispielsweise zählten das atemberaubend experimentelle Liveset von Actress oder der gesamte Showcase von Tri Angle Records zu den zahlreichen Glanzlichtern dieses Festivals. Nach der äußerst spannenden Eröffnung durch oOoOO bot How To Dress Well ein unglaublich fesselndes Set älterer und neuer Stücke. Darunter beispielsweise gar a-capella-Versionen einiger Songs und das phänomenale Cover von R. Kellys „I Wish“. Im Anschluss beschloss der mysteriöse Holy Other drei faszinierende Stunden und wer auch immer sich dahinter verbirgt, sicher wird man noch einiges hören von diesem neuen Stern am Witch-House-Himmel.

Am Sonntag ging das Festival mit dem Abschlusskonzert von Alva Noto & Ryuichi Sakamoto in einem griechischen Amphitheater zu Ende. Deren Auftritt verdeutlichte die Tendenz der vergangenen Tage nochmals: zwischen den beiden minimalistischen Polen der Rahmenveranstaltungen, der Abstraktion Alva Notos und der Repetition Steve Reichs, wäre viel Platz gewesen, die aktuellen Grenzen elektronischer Musik abzutasten wie es Actress oder Nicolas Jaar vormachten. Dies geschah freilich nur sporadisch. Wer an diesem Wochenende ausschließlich derartig anspruchsvolle Projekte erleben wollte, hätte einigen Auftritten fernbleiben müssen. Wer jedoch die gegenwärtige Vielfalt elektronischer Musik erleben wollte, war in diesen Tagen in Barcelona richtig und wurde keineswegs enttäuscht.

Bilder: Oscar Garcia (Steve Reich & Publikum), Juan Sala (alle anderen)

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