Ein Klosterschüler, unverschämt müde

„Wie schmeichelhaft war es, metaphysische Diskussionen an Lagerfeuern zu führen, sich als gläubiger Freigeist zu gebärden, in einer Punkband zu spielen und dennoch ein Kloster aufzusuchen. Darin lag eine Anmaßung, er glaubte, alles umfassen zu können, mehr zu wissen als Menschen, deren Furcht ihr Leben im Glauben oder Zweifeln festhält. Es war Hochmut, eine Todsünde. Das aber blieb ihm verborgen, denn er war nicht katholisch.
Bei der von ihm aufgesuchten Glaubensgemeinschaft handelte es sich folgerichtig nicht um einen altehrwürdigen Orden, sondern eine recht moderne, evangelikale Bruderschaft, einen Lebensbund zwischen fast ausschließlich derselben Generation angehörenden Männern. Ihren Hauptsitz hatte sie in einer Villa, die von einem weitläufigen Anwesen umgeben an den Füssen eines kleinen Mittelgebirges liegt. In ihr waren stets Gruppen zahlreicher Gäste untergebracht, „Rüstzeiten“ genannt, eine Art Urlaub, zu dem auch ein religiöses Programm gehört, Bibelarbeiten, Basteln und Singen zum Beispiel.
Dann war er also im Kloster, aß besser als jemals zuvor, verbrachte die Abende in einer Bibliothek und den Tag bei Arbeit und Mahlzeiten. Die geregelten Umstände bewogen ihn wider Erwarten nicht dazu, sich der Innerlichkeit und Stille anheim zu geben.
Trotz ihrer spirituellen Abgeschiedenheit verschlossen sich die Brüder keineswegs gänzlich der Welt, sie widmeten sich medizinischen und sozialen Projekten in den sogenannten „Krisenregionen“, eine mit Sicherheit nützliche Aufgabe. Welche Rolle der Glaube dabei spielte, wurde ihm, je länger er im Kloster verblieb, immer schleierhafter. ‚Sollte Religion die Menschen dazu motivieren, Wunden zu heilen, kann sie zwar so schlecht nicht sein, wenn auch noch lange nicht so gut wie der Versuch, die Menschen gleich daran zu hindern, Wunden zu schlagen. Aber es gilt eben, die andere Wange auch noch hinzuhalten, das ist der Glaube, außerdem ist der Mensch an sich ja schon verloren und sündig und muss auch durch Irrtümer zurück zu Gott gelangen’, so dachte er mit schwindender Überzeugung.
Und so dachte er oft, dachte in der Ruhe einer Regelmäßigkeit, deren einzige Störung das Verlesen der Nachrichten am Mittagstisch war, dachte, während er in der Küche Mahlzeiten für Familien zubereiten half, die nicht so wirkten, als könnte sie den Umgang, den er daheim pflegte, gutheißen, weder die Eltern noch die Kinder. Es wuchs das Gefühl in ihm, etwas verbergen zu müssen. Besucher und Bewohner des Klosters kamen ihm zwar weltfremd, aber nicht weltabgewandt vor. Sie entschädigten sich mit einer unduldsam freundlichen Art für den Verlust der Möglichkeit, Schaden zu nehmen. Diese Gläubigen schienen der Welt etwas vorzuenthalten, sie nahmen die Absicherung ihrer Bedürfnisse als gottgegeben hin, dankten im Gebet, aber hinterfragten nicht, waren bereit, zu teilen, aber nicht zur Aufgabe, waren aufmerksame, aber nur, um auch ja kein Wort zu verpassen, an dem sie ihr Weltbild engagiert und verständnisvoll darlegen konnten, und letztendlich auch nur verständnisvoll, weil sie es sich als Menschen im Recht erlauben konnten, nachsichtig zu sein.
Wann genau er zwischen ihnen den Glauben verlor, vermochte er nicht mehr zu sagen. Es war eine schmerzliche Befreiung. Die Wochen nach dem Klosteraufenthalt verbrachte er beinahe vollständig im Rausch.“
„Mhm… also, am besten gefällt mir daran, dass Du mir endlich mal selbst etwas von Dir vorgelesen hast… schreibst du nicht mehr in der ersten Person?“
„Nee, dadurch habe ich den Eindruck, etwas Allgemeines sagen zu können, also, dann wirkt es auch eher wie eine Erzählung und keine Selbstauslegung, hoffe ich…“
„Sicher, klar, aber dafür ist es ein wenig fragmentarisch, nicht? Als Einstieg ist es aber doch schon ganz okay. Soll’s noch mal weitergehen?“
„Das ist der Plan, ja. Ich würde gern noch an irgendeinen Punkt kommen, an dem der Protagonist dann sagen kann ‚Ich habe die Ewigkeit verloren und den Verlust in ihr gefunden.’, so was in der Art, ja.“
„Aha. Aber wer glaubt denn auch einfach so an die Ewigkeit, daran glauben wir doch alle nicht mehr, so spricht doch keiner, da musst Dir schon was einfallen lassen. Und naja, nicht, dass ich mich daran erinnern könnte, aber Du hast doch sicher einmal Klügeres gesagt, ich kann ja mal probieren, jemanden zu finden, der sich vielleicht daran erinnert, obwohl ich das ja nicht…“
„Nee, lass mal lieber. Und sicher, mir ist auch schon einmal irgendwas Griffigeres eingefallen, Worte kann ich machen, klar… aber so richtig das Gefühl, als hätte ich eine Art Erkenntnis, hab’ ich erst jetzt, wenn ich nichts Konkretes mehr zu sagen weiß, und da kann man sich in so einen Satz fallen lassen, der muss dann natürlich zentral sein, darin hab’ ich mich gerade festgebissen, in die Nichtigkeit und Vergänglichkeit und den ganzen Mist, dass man einfach sein muss.“
„Klar doch. Wissen, dass man nichts weiß und nicht weiß, warum, sehr schön. Soll ich Dich jetzt trösten oder loben oder bemitleiden oder wie?“
„Hör doch auf mit dem Mist, darum geht’s mir gar nicht… da geht’s doch nur um Erkenntnis, beim nicht wissen können, dass man mit jedem bisschen Wissen das Unbekannte vergrößert… ich geh’ in die Küche, soll ich Dir noch ein Bier mitbringen? … Hier… jedenfalls wäre dass ja kein Problem für die Ewigkeit, nichts wissen zu können, aber die gibt es ja nicht.“
„Wieso kein Problem? Dann wüsste man am Ende ja nie etwas.“
„Eben. Am Ende, aber das gäbe es ja nicht, und dann hätte man auch immer etwas zu tun, um die Ewigkeit zu ertragen… aber das gibt’s eben, das Ende“
„So? Da bin ich ja mal gespannt, wenn man Zeit nicht als linearen Verlauf, oder selbst wenn man Zeit als nicht linear begreift, dann…“
„Das ist doch egal, was nun die Zeit…“
„Lass’ mich mal ausreden, immer musst Du mich…“
„Ja, weil Du abschweifst, die Zeit ist mir doch scheißegal, darum geht’s mir nicht, ich schlittere hier in eine existenzielle Krise, und Du kommst mir mit solchen Allgemeinplätzen, Gedankenspielereien, ist mir doch scheißegal, ich versuche, einen Weg zu finden, um, also, jeder stirbt einmal, vielleicht, oder auch nicht vielleicht, also, einfach mal sagen, dass es mir schlecht geht, das will ich, aber das geht ja nicht, da muss ich ein wenig drum herum schreiben, oder?“
„Mann, dann mach’ das doch einfach, ist mir ja eh nix Neues, Dein edles Leiden, Weltschmerz… soll ich uns die Tindersticks anmachen? Oder gleich Black Heart Procession?“
„Hehe… lieber die Bowerbirds… danke. Hast Du auch das erste Album? Finde ich besser als das zweite… oder warte, hast Du Lennons erstes Soloalbum?“
„Dieses obskure ‚Two Virgins’?“
„Nein, ‚Plastic Ono Band’, vielleicht seine beste Soloplatte, obwohl ‚Mind Games’ generell ja unterschätzt wird. Aber darum geht’s gar nicht…mhm. Jedenfalls, auf ‚Plastic Ono Band’ sind so ziemlich fast mit die ergreifendsten Stücke, die er jemals schrieb, das herrlich simple ‚God’, so für Schulhofatheisten, ‚I Found Out’ geht auch in die Richtung, aber so richtig materialistisch wird’s dann doch nicht, Liebe als Form Erlösung tröstet überall, das ist schon beinahe bedrohlich…“
„Naja, er war halt verliebt, irgendwie die ganz Zeit, das scheint zumindest so, oder aber man soll das glauben, oder Yoko Ono will, dass man das glaubt, da hatte er gut reden, so als selbstbestimmter Künstler mit Künstlerinnenfrau und Plattenvertrag und Geld, als Beatle.“
„Aber er war in den Siebzigern auch getrennt von ihr und zog mit Phil Spector durch Kneipen und so… ziemlich gefährlich, Kneipen und Phil Spector. Mhm… ist ja damals noch nichts passiert, erst später… auf jeden Fall hab’ ich Lennons erste Soloplatte mal wieder gehört, und gleich der erste Song ist so ziemlich mit das härteste, was Lennon geschrieben hat, neben ’Isolation’, das auch da drauf ist. Er hat auch andere „ernsthafte“ Songs geschrieben, aber das ist ja nicht gleichzusetzen mit hart, also schwer, ‚heavy’ sozusagen, ähem, also…“
„’Julia’ oder halt ‚I Want You (She’s So Heavy’) oder ‚Hapiness Is A Warm Gun’…“
„Och, weiß nicht, das war dagegen mehr noch ein Spaß, eine Spielerei… aber davon findet sich nicht so viel auf dem ersten Album, ‚Working Class Hero’ ist vielleicht so eine Spielerei, ein Schwachpunkt, was will er denn damit, aber ansonsten ist es ein durchaus gelungen. Nee, also, was ich sagen wollte, ähem, also, ‚Julia’, da geht’s ja um seine Mutter, die ihn nicht aufzog und dann auch noch recht früh starb, und da kam mir, also, ach, ich spreche da nicht so gern drüber, aber neulich hörte ich wieder eben mal ‚Plastic Ono Band’ und musste an mich denken, an meine Eltern, zu denen ich ja keinen Kontakt mehr habe, und vielleicht auch nicht mehr haben werde, und das wird sich niemals ändern, und wird auch nicht anders, und nicht besser. Oder wenn wir uns freuen, Dropouts zu sein und gar nicht mehr drin sind oder Boheme oder weiß der Geier, wie man das nennen soll, Berufsjugendliche ohne Anstellung, mit Ekel vor der Kulturindustrie und nur durch sie lebendig und dafür dankbar und nur dadurch dahin gekommen, wo wir jetzt sind, und nie wird es besser werden, und nie anders, weil, morgen ist vielleicht schon alles vorbei… es gibt kein Anrecht auf ein gutes Ende, es tut sich nicht immer etwas, und warten kann man auch nicht ewig… Immer hofft man auf irgendwas, und machen, ach, machen kann man viel, aber wenn man macht, was man möchte, wird’s wirtschaftlich schwierig, und ein Ende dessen erlebt man eh nie, ein Ende gibt’s aber trotzdem… warte, ich hol’ mal noch ein Bier… und John Lennon, ja, der hatte Yoko Ono, aber diese Sache mit der Liebe, und mit der ewig währenden, ich stelle mir das so anstrengend vor, und wie soll denn etwas Endliches die Endlichkeit adeln? Das verstehe ich nicht.
Irgendwann bräuchte es die Ewigkeit, damit es immer eine Zukunft gibt, und die gibt es nicht, und wir werden nie als das entdeckt, was wir zu sein glauben, und wenn wir es würden, dann… warte ich wisch das auf, ich hole ein Handtuch… naja, jedenfalls, dann wollen wir das denen auch nicht glauben, dass sie uns verstehen würden. Und so ist das halt, und das macht mich fertig, weißt Du?… Tjoa, durcheinander halt. Was weiß ich, früher konnte ich mich wenigstens noch durch den Glauben trösten lassen, danach von der Liebe, aber das waren alles nur anstrengende Ideen, und jetzt fühle ich mich unverschämt müde.“
„Tindersticks?“
„Gute Idee“
„Plastic Ono Band“ von John Lennon erschien 1970 via Apple / EMI / Bildrechte: Sam Winston (Portfolio hier)
Weitere aktuelle Kurzgeschichten:
In A Future Age (zu Wilcoos „Summerteeth“)
Die neue Seltsamkeit. Ein Abschied (zu Tocotronics „K.O.O.K.“)
Alleine mit dem Krug am Tresen oder: Romantik mal anders (zu The Walkmens „You & Me“)
Starkes Ding, Lennart.
Besten Dank, Pascal!