(K)ein Kult – Ein bisschen Nostalgie muss sein

Vor knapp 27 Jahren hatte es angefangen, im Kaminzimmer mit Orangensaft und Salzgebäck. Ich war stolze sieben Jahre alt und verfolgte mit großen Kinderaugen zu eigentlich viel zu später Stunde meine ersten wahrscheinlich gut 45 Minuten Grand Prix D’Eurovision De La Chanson. Ob das damalige lautmalerisch betitelte Siegerlied „Diggi-loo, diggi-ley“ der norwegischen Herrys zu der Zeit bereits absolviert war, vermag ich nicht zu sagen. Sicher war nur ob bewusst oder unbewusst: eine große Liebe war geboren.
Die folgenden Jahre kann ich im einzelnen gar nicht mehr zusammenfassen, und ob ich den bis zum vergangenen Jahr einzigen deutschen Sieg durch Nicole 1982 vorab auch bereits live wahrgenommen habe (ich war immerhin 5!) oder nur aus den viel zu häufigen Wiederholungen kenne, vermag ich auch nach längerer intensiver Rückschau gar nicht mehr sagen. Sicher ist: Die erste vollständig memorierbare ESC-Sendung war die von 1992, als der italienische Sänger Toto Cotugno mit seiner Europahymne „Insième“ den letzten großen Triumph für Italien einheimste. Ab dann wurden die Grand Prix-Veranstaltungen, die Vorentscheide und später auch die Halbfinale mit wachsendem Interesse und größtem Zinnober verfolgt, immer in der Hoffnung, dass der deutsche Beitrag, häufig ein blasser Abklatsch der aktuellen Mainstream-Mode, vielleicht doch mal wieder einen Platz an der Sonne einheimst.
Doch nun genug der Vorrede, die sich jedoch bedingt, wie sonst sollte sich der Leser die Begeisterung und Euphorie des Autors vor Augen führen, der auch in diesem Jahr im Kreis guter Freunde beim traditionellen Käseigel mit Länderflaggen der Entscheidung entgegenfiebert. Natürlich mit Tippspiel und großer Diskussion, bei der jede auch nur leidlich scheußliche Performance und jedes pittoreske Bühnenoutfit aufs Schärfte kritisiert wird. Ein Blick auf die Teilnehmerliste verheißt dabei wieder Großes, doch dieses Mal sind es nicht nur die osteuropäischen Vertreter, die mit hinreißenden Geschmacklosigkeiten die größte ESC-Halle aller Zeiten betreten. Hinzuweisen ist hier vor allem auf die irischen Feuerköpfe von Jedward, die sicherlich nicht nur im ersten Halbfinale mit ihren Lippenstift-Frisuren und einer überdrehten Popkasperei für Furore sorgen werden. Norwegen kontert mit „Waka Waka“-Partystimmung und Safri-Duo-Beats, eine gelinde gesagt mehr als gewagte Kombination für den hohen Norden.
Während die in früheren Jahren häufig balkanisierten Eurobeats dieses Mal ein Stück in den Hintergrund treten (außer beim gruseligen mazedonischen Beitrag), darf es dieses Mal ein wenig mehr Pop sein, der gerne mit leichten Elektro- und Jazzeinschlägen dekoriert wird. Beispiele besserer und schlichterer Qualität finden sich zuhauf, für erstere sprechen vor allem die Estin Getter Jaani, die mit dem interessanten „Rockefeller Street“ an den Start geht und das hübsche, wenn auch antiquiert wirkende „Madness Of Love“ des Italieners Raphael Gualazzi. Vielen „Schlagern“ hingegen fehlt es an der Unverwechselbarkeit, doch wenn die dann noch wie zum Beispiel bei den litauischen oder maltesischen Beiträgen verkitscht oder verniedlicht gesungen werden (was schlimmer ist, möge sich der geneigte Leser selbst anhören), macht das durchaus Freude beim durch den Kakao ziehen, Gnade gibt es von den meisten ESC-Fans und Jurys nur sehr bedingt.
Natürlich können dass hier nur Beispiele für drei kunterbunte Abende sein, denn vor dem Finale am kommenden Samstag darf ja auch am Dienstag und Donnerstag mitgefiebert werden. Ob allerdings der bei den Wettquoten hoch im Kurs liegende Tenor Amaury Vassili aus Frankreich mit seinem korsischen Bolero, die österreichische Wahnsinnsstimme Nadine Beiler, der niedliche finnische Songwriter Paradise Oskar oder gar „unsere Lena“ das Rennen macht, dazu enthalte ich mich fürs Erste jeglicher Stimme, freue mich stattdessen auf die mit Spannung erwartete beste Fernsehwoche des Jahres.