Der Liedschatten (16): Sommerhit, 1961

Ah, der Sommer! Erhitzte Gemüter dösen des Tages und müssen anschließend all die aufgenommene Energie in flirrende Nächte entlassen, sich verschenken an lampionüberstrahlte Reigen voller Leidenschaft, taumelnd zwischen den züngelnden Flammen verlangender Blicke. Schon Pippi Langstrumpf wusste: „Der Sommer ist das Schönste im ganzen langen Jahr / im Winter denk‘ ich immer wie warm’s im Sommer war“. Und so kommen dann farbenfrohe Lastwagen aus allen Himmelsrichtungen in die großen Städte der Republik geeilt und entleeren ihre schwere, aber weiche Last auf Plätzen, die anschließend mit schillernden Namen wie „Hamburg del mar“, „Bundespressestrand“ oder „Munich Beach Club“ bedacht werden, wo sauvoir vivre voller Glamour und legerem Sex in der Luft liegt. Dort trifft sich dann der prekarisierte Yuppie mit dem nicht-prekarisierten Yuppie, der Prekarisierte, der gern Yuppie wäre, mit dem Konsummaterialisten, Agenturschaffende sämtlicher coleur eben.
Ein Großteil der Menschen, denen man die Entwertung des Wortes „kreativ“ anlasten könnte, tummelt sich dann also gemeinsam mit Studenten und weltstädtischen Touristen, rund um kleine Cocktailschirmchen gruppieren sie sich, allesamt friedlich vereint in der geketteten Beschaulichkeit der Liegestühle. Dabei kann man sich dann unterhalten, und sehr dienlich für eine angeregte Unterhaltung ist die Unterhaltung an sich, zum Beispiel die aktuellen oder gewesenen Sommerhits, natürlich im vollen Bewusstsein, dass diese schon ziemlich „trashig“ seien, man aber eben nirgendwo besser feiern könne als auf „Bad Taste“-Partys. Damit erfüllen die Liedchen den von ihren AutorInnen vorgesehenen Sinn und Zweck, eine jede Aufführung bringt nämlich gänzlich unironisches Geld ein
Ein kleiner Exkurs oder: Der Sommerhit, eine ehrbare Institution
Sommerhits profitieren von einem ungeschriebenen, aber allgemein akzeptierten Gesetz, laut dem es in den Monaten Juni bis August zu keinerlei schwerwiegenden, wichtigen Ereignissen kommen darf und auch gar nicht kommen kann, da zum einen Parlamentsferien sind und zum anderen wenige Platten erscheinen. Kein Wunder, geben doch die meisten erwerbstätigen Menschen ihr Geld in diesem Zeitraum lieber anderweitig aus und verreisen. Auch macht der Sommer ja, wie eingangs beschrieben, alles leicht, und wer will sich da schon mit irgendwelcher schweren Kost, sprich ganzen Alben, zum Beispiel Stings neuestem Orchesterwerk, beschäftigen? Niemand. Und außerdem möchten auch die Angestellten der Musikindustrie einmal verreisen, der Sommer wird also schon im Frühjahr abgewickelt, in dem man zum Beispiel sagen kann: „Da, nimm, werte Kundschaft! Dieses Lied sei Euer Sommerhit, oder dieses, oder jenes! Dann nämlich können wir diesen Song zu Eurem und unseren Amüsement auf eine Compilation mit den Sommerhits der letzten Jahrzehnten packen, dass spart uns Zeit und Geld. Gut? Danke!“.
Ganz so simpel geht’s dabei wohl nicht zu, an anderer Stelle aber schon, nämlich beim Sommerhit an sich. Dessen Merkmale nämlich sind: Eine einfache Melodie, Tanzbarkeit, ein eingängiger Text mit vielen Silben, aber ohne tieferen Sinn, ansonsten irgendetwas mit Sonne und Sommer und Liebe und Strand und Tieren und ein klitzekleines bisschen „Exotik“, so macht man das.
Im Rahmen des Liedschatten, bei dem es ja immer um einen Nummer-Eins-Hit geht, werden wir immer wieder zur Beschäftigung mit Stücken angehalten sein, die unter die erwähnte Kategorie fallen, der als eben solcher benannte Sommerhit und seine Inkarnationen werden uns aber erst ab einem späteren Zeitpunkt regelmäßig begegnen. So hatten wir es bisher in den Monaten Juni bis August nur mit Heidi Brühl, Edith Piaf und Ted Herold zu tun, ein Jahr später nun empfehlen sich Billy Vaughn und sein Orchester, allesamt trugen sie Schlager vor, jedoch keine ausgesprochen sommerlichen Hits.
Billy Vaughn „Wheels“, Juni – August 1961
„Wheels“ ist simpel, im Wesentlichen besteht es aus der Wiederholung eines einzigen Themas, eine besonders prägnante rhythmische Ausgestaltung oder ein Text fehlen. In den 50er und 60er Jahren handelte sich bei einem Instrumental, anders als zum Beispiel beim Aufkommen des Postrock Anfang der 90er, um nichts Besonderes, man denke nur an Künstler wie The Shadows, The Surfaris, Bill Justis und The Fireballs, die im Gegensatz zu Billy Vaughn aber als Band in Erscheinung traten. Dieser war der Leiter eines Orchesters und lässt sich, was seine Funktion anbelangt, grob gesprochen mit James Last oder Bert Kaempfert vergleichen. Vaughn war mit einer etwas blutarmen, kreuzbraven Adaption des R’n’B und Rock’n’Roll sehr erfolgreich, insbesondere in der BRD und Japan, beides Territorien, in denen man selbst mit den abstrusesten Musiken auf Gefallen treffen kann. Was er mit seiner Musik darbrachte, war eine Dienstleistung, Tanz- und Unterhaltungsmusik, die keine Ansprüche an die Aufmerksamkeit der HörerInnen stellt, genau das richtige für den Sommer also, oder den Herbst, den Winter, Frühling. Belanglosigkeiten waren und sind immer gefragt, anders als Inhalte, die man sich erst noch erschließen muss. In der Popmusik kamen solche erst im weiteren Verlauf der 60er Jahre auf, und dann auch seltener, als es den Anschein hatte.
Heute gibt es für die meisten Genres gewisse Spektren an Themen und Emotionen, deren Abhandlung erwartet wird, die aber auch hin und wieder verweigert, erweitert, ausgebaut, ausgeschmückt und über das verlangte erhoben werden. Es besteht also kein Grund zur Sorge und Bitterkeit, Popmusik war schon immer besser als ihr Ruf, und der muss dafür eben schlecht sein, dann fällt ihr das leichter.