Was soll man denn davon halten? Ein Soloalbum eines Saxophonisten aus dem Arcade-Fire-Umfeld. Das mag zunächst nach Final Fantasy auf Blasmusik klingen, entpuppt sich aber bald als äußerst spannendes und innovatives Highlight in Sachen Jazz.

Auf der musikalischen Landkarte vieler Menschen dürfte dieses Genre heutzutage eine Art blinden Fleck darstellen. Klar kennt man die wichtigen Namen, in diesem Falle als Anhaltspunkte vielleicht John Coltrane oder Ornette Coleman, aber wer nimmt sich denn wirklich noch die Zeit, die großen Meister selbst zu hören? Zu versteinert ist der Kanon, zu selten wird daran gerüttelt und zu wenige drängen ebenfalls auf diesen schwarz-weißen Olymp längst vergangener Tage. Und weil seit geraumer Zeit neue hochwertige Tendenzen im Jazz ebenso rar gesät sind wie gute Jazzclubs, ist es umso erfreulicher, dass ein junger Musiker wie Colin Stetson den Versuch wagt, ganz und gar neue Reizpunkte in diesem etwas angestaubten Genre zu setzen.

„A New History Of Warfare Vol. 2: Judges“ ist das zweite Soloalbum dieses Studiomusikers, der unter anderem schon für The National, Bon Iver, Feist, Tom Waits, TV On The Radio oder LCD Soundsystem aufgenommen haben soll. Keiner der Namen dient jedoch als Referenz für das vorliegende Album. Stattdessen bekommt man ausschließlich Kompositionen für ein einziges Blasinstrument zu hören. Bereits die ersten Stücke verdeutlichen allerdings Stetsons große Ambitionen: „Judges“ beispielsweise ist ein treibendes, fast schon tanzbares Stück, welches ebenso gut unter Weltmusik gelistet werden könnte. „The Stars In His Head (Dark Lights Remix)“ besticht dagegen in seiner Reduziertheit auf eindringliche Art und Weise mit einem unnachahmlichen Spannungsbogen und einem famosen Ende.

Stetsons Mittel der Wahl ist vor allem die fortwährende, um Nuancen abgewandelte Wiederholung einzelner Passagen auf seinem Bass-Saxophon. Da die Grenze zwischen Minimalismus und Monotonie jedoch bekanntlich fließend ist, bleibt es nicht aus, dass manche Songs kaum voneinander zu unterscheiden sind oder man bei anderen Stücken ebenso sehnsüchtig wie vergeblich auf einen Höhepunkt wartet. Vermutlich um für Abwechslung zu sorgen wurden daher zwei prominente weibliche Sängerinnen verpflichtet: In vier Songs erhält Stetson die Unterstützung von Laurie Anderson, in zwei weiteren von My Brightest Diamonds Shara Worden, die beispielsweise dem Klassiker von Blind Willie Johnson, „Lord I Just Can´t Keep From Crying Sometimes“, neues Leben einhaucht.

Die Besonderheit dieses Albums liegt aber vor allem in Stetsons Saxophonspiel und der außergewöhnlichen Aufnahmetechnik, denn die Stücke wurden meist solo, meist in einem einzigen Take und ohne Loops und Overdubs aufgenommen. Diese Technik mit zahllosen Mikrofonen im und um das Saxophon herum ermöglicht es Stetson, einen unglaublich vollen und vielfältigen Sound zu erzeugen. Stücke wie „The Righteous Wrath Of An Honorable Man“ oder „Closed In The Skin Of The Dead“ überzeugen daher allem voran durch ihre schier unfassbare Nähe zum Hörer und das förmlich greifbare Saxophonspiel Stetsons. In „Red Horse (Judges II)“ vernimmt man ein Schnaufen, Schaben und Kratzen, sodass Stücke wie dieses kaum lebendiger sein könnten. Sie scheinen regelrecht zu atmen und werden dadurch zu äußerst kraftvollen Argumenten für mehr Mut und weniger Kompromisse in der Musik.

Letztlich sitzt Colin Stetson mit seinem Saxophon irgendwo zwischen den Stühlen der Avantgarde, des Jazz, des Drone, der Weltmusik oder auch der Minimal Music Steve Reichs. Mit seiner Mischung aus diesen verschiedensten Stilen gelingt es ihm, zwischen bisher verhärteten Fronten zu vermitteln und durchaus etwas vollkommen Neues zu erschaffen. Einziger Haken: Das Album wirkt als Gesamtwerk leider nicht vollkommen stimmig und könnte von den einen oder anderen durchaus als unbefriedigend wahrgenommen werden, so spannend und innovativ „A New History Of Warfare Vol. 2: Judges“ als Experiment letztlich auch sein mag.

78

Label: Constellation

Referenzen: John Coltrane, Ornette Coleman, Tom Waits, Laurie Anderson, John Butcher, John Zorn

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VÖ: 25.02.2011

3 Kommentare zu “Rezension: Colin Stetson – A New History Of Warfare Vol. 2: Judges”

  1. […] Momenten duellieren sich die Instrumente, schräg und dissonant. Nicht unähnlich der Arbeiten von Colin Stetson, dessen Drang zum Grenzgängerischen sie teilt, arbeitete Matana Roberts unter anderem bereits mit […]

  2. […] die furiose Ty Segall Band, Drone-Mozart Tim Hecker, Deerhoof, Mono, Beak>, Julianna Barwick, Colin Stetson, Zammuto, Why? oder Matana […]

  3. […] die furiose Ty Segall Band, Drone-Mozart Tim Hecker, Deerhoof, Mono, Beak>, Julianna Barwick, Colin Stetson, Zammuto, Why? oder Matana […]

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