Auf einmal ging alles ganz schnell: gerade eben gab man sich noch Spekulationen hin, und dann war „The King Of Limbs“ plötzlich da, einen Tag eher als erwartet. Knapp 40 Minuten Spielzeit, 8 Songs, damit wird sich in den nächsten Wochen eine loyale Fangemeinde auseinandersetzen und sich der bei Radiohead immer wiederkehrenden Frage stellen müssen: Ist es besser als „The Bends“, „OK Computer“, „Kid A“, „Amnesiac“, „Hail To The Thief“ oder „In Rainbows“, je nachdem, welches das bisherige Lieblingsalbum war? Was ist anders, was ist neu? Unsere Track-by-Track-Übersicht gibt eine erste Hilfestellung zur Klärung dieser Fragen.

1. Bloom: Erst plinkert es ein wenig, und dann sind sie plötzlich da, Rhythmen, wie man sie schon auf Jonny Greenwoods Soundtrack „Bodysong“ fand, unterlegt mit jazzigen Akkorden. Zwischendrin wabern dezent von Reverb verlängerte Töne, die einzigen klaren Melodien bieten der Gesang und Colin Greenwoods wunderbar platzierter Bass. Thom Yorke summt sich durch eine Welle aus Stimmen, Streicher tauchen gemeinsam mit Bläsern auf, wie man sie in der Klarheit noch nicht bei Radiohead hören konnte. „Bloom“ hätte eine B-Seite zu Amnesiac seien können, und wer zum Beispiel „The Amazing Sounds Of Orgy“ kennt, weiß, dass das ein Kompliment ist.

2. Morning Mr Magpie: Postrock, das ist der erste Gedanke, eine Gitarre streut eine dicht aufgereihte, prägnante Melodie, der Bass ist wieder einmal grandios. Thom Yorkes Gesang ist klar und versunken, das Schlagzeug zischelt und treibt. Dann ein Radiohead-typischer Break mit York’schen „Uhhhhsss“ und weiter geht’s, recht fix und stetig nach vorn. Keyboards oder Synthies blinken in konstanten Tönen, zum Ende hin wird’s reduzierter, ein einzelner Klang entschwebt.

3. Little By Little: Und wieder ein sehr rhythmischer Song, bedrohlich und dicht, viel Perkussion, eine Art Mischung von „I Might Be Wrong“ und „Reckoner“. Rückwärts laufende Loops sorgen für eine psychedelische Atmosphäre, eine  Art Refrain scheint auch vorhanden zu sein. Die Texte sind auch jetzt noch nicht allzu verständlich, aber damit kann man Leben, die Stimme entschädigt. Bis jetzt kann man sagen, dass auf „The King Of Limbs“ die Offenheit, die sich noch auf „In Rainbows“ finden ließ, einem dichten, pluckernden und wabernden Sound gewichen ist, perkussive Elemente dominieren. Hier gibt es viel zu entdecken und wer keine guten Kopfhörer hat, ist eindeutig im Nachteil.

4. Feral: Auch bei diesem Album scheint es wieder ein ästhetisches Konzept gegeben zu haben, dieses Mal also mit dem Schwerpunkt auf der Rhythmik. Kann man so etwas hier als Schlagzeuger live spielen? Und sind das die Folgen des Yorke’schen Fantums für Flying Lotus? Was macht Colin Greenwood da schon wieder, läuft der Gesang durch einen Synthie? Hier gibt’s irgendwo zwischen „Myxomatosis“ minus Text und „Pulk/Revolving Doors“ eine Menge Fragen.

5. Lotus Flower: Ah, die Single. Bass, zurück genommen, aber noch kein gerades Schlagzeug, kleine Handclaps, prägnant, aber ein wenig verloren und der Verdacht, es bei Colin Greenwood mit einem wirklich überragenden Bassisten zu tun zu haben, der selbst von Yorkes Stimme ablenkt. Der Song erinnert ein wenig an „Talk Show Host“, auch ein Stück, an dem der Bassist nicht unwesentlich beteiligt war. Das groovt, ist sinnlich und catchy. Die Entscheidung, hierzu ein Video zu machen, ist eine kleine Entscheidung für den Pop, den Radiohead bis jetzt durch dieses Album noch nicht erweitert haben, ihm aber erneut zu einem mehr als lichten Moment verhelfen. Die Stimmung bleibt auch hier schwer, dunkel und gelöst bis verloren, die Klangfarbe meist dunkel.

6. Codex: Ein Piano, das durch eine Art Flanger gejagt wird, eröffnet das Stück, es scheint balladesk zu werden, ein Song für Menschen, die „4 Minute Warning“ gerne auf „In Rainbows“ gesehen hätten. Sollte dies eine kleine Zäsur sein, wird die zweite Hälfte in diesem Fall recht spät eingeläutet. „Codex“ könnte trotz seiner ruhigen Stimmung live ein neuer Publikumsliebling werden. Und es wird „No one gets hurt“ gesungen, wann hört man das schon einmal in einem Song der eher dystopisch orientierten Oxforder? Wunderschön sind die Bläser, vermutlich Hörner, und wieder schweben Soundfetzen durch das Stück. Die zum Ende kurz aufflammenden Streicher machen es beinahe orchestral. Ein Song der Liga „No Surprises“ und „Nude“.

7. Give Up The Ghost: Vögel und ein merkwürdig gedoppelter Backgroundgesang, eine lockere Gitarre, dann setzt Thom Yorke ein, und was immer er auch singt, es muss etwas Angenehmes sein. Wie schön, dass sich Radiohead zu dieser Art von Song durchringen konnten. „Give Up The Ghost“ scheint besser zu sein als das verwandte „House Of Cards“. Reverbstimmen verdichten das Lied nach und nach, da kann Ed O’Brien live dann wieder fein an den Knöpfen drehen. Und überhaupt, was machen er und Jonny Greenwood die ganze Zeit? Mit Sicherheit sind auch sie nicht unmaßgeblich beteiligt gewesen, aber die Beiträge einzelner Bandmitglieder stechen nicht so hervor wie zum Beispiel auf „Kid A“, obwohl „The King Of Limbs“ insgesamt wärmer ist als dieses, wirkt es elektronischer.

8. Separator: Kein „Motion Picture Soundtrack“, kein „Videotape“ erwartet uns am Ende, der King verabschiedet sich gelöst und groovig, er gleitet noch ein wenig, und wieder gibt’s allerlei kleine Stimmen. Sie sind auf dem Album noch mehr Instrument als jemals zuvor. Eine recht klare, Licks spielende Gitarre gibt’s auch noch, weniger versteckt als bei vorherigen Stücken. „Seperator“ wäre auch auf „OK Computer“ nicht negativ aufgefallen.

Ein versöhnlicher Abschluss, wobei man hier mit nichts ausgesöhnt zu werden braucht als dem Ende eines Albums, mit dem sich Radiohead „nicht neu erfunden haben“ (was für eine alberne Phrase, und wie oft wird man sie in den nächsten Wochen lesen müssen!) und auch nicht ihren Status als „innovativste Band verteidigen“ (was sie seit „Hail To The Thief“ sicher nicht mehr sind). „The King Of Limbs“ ist wunderschön, kunstvoll und stellt keinen Bruch mit einer Diskographie dar, die genügend Ansätze enthält, um selbstreferenziell zu sein, ohne ihren Zauber zu verlieren, von der grandiosen Produktion einmal abgesehen. Eine in ihrer Selbstgenügsamkeit beinahe bescheidene Band bittet um Aufmerksamkeit, und wer sie ihr verwehrt, verpasst nicht mehr als ein weiteres wunderbares Radiohead Album.

Links: Radiohead | Albumstream | The King Of Limbs

19 Kommentare zu “Track-by-Track: Radiohead – The King Of Limbs”

  1. Hier noch ein recht interessanter artikel zu flying lotus‘ möglichem einfluß: http://www.ateaseweb.com/2011/02/19/flying-lotus-flower-radiohead-vs-the-king-of-beats/

  2. Bernd sagt:

    Warum keine Prozentrang-Wertung? Erst noch Pitchfork & Co. abwarten? ;)

  3. @Bernd: Klar, die wird dann nachträglich irgendwo abkopiert, hier eingefügt und dein Kommentar gelöscht damit’s niemandem auffällt :D

    Mir gefällt’s nach 2maligem Hören besser als die (IMO überschätzten) letzten beiden Alben, vielleicht auch weil es an Fäden von vor 10 Jahren anknüpft. Trotz der perkussiven Beschäftigkeit ein ruhiges, wenig aufdringliches Werk das wohl niemand als ihr Magnum Opus bezeichnen wird, trotz der relativen Kürze eine klare, runde Entwicklung in der nach dem unnachgiebig dichten ersten Teil „Codex“ und „Give Up The Ghost“ umso effektiver sind.

    Wobei ich zwar die vielen feinen Details mag (die verhaltenen Klatscher in „Lotus Flower“!), die Produktion insgesamt aber etwas zu undynamisch und laut ist so dass das Kopfhöre(r)n wenig Spaß macht. Kann mir nicht vorstellen dass die Klangkurve von z.B. „Bloom“ sonderlich dünn ausfällt.

  4. Lennart sagt:

    @Bernd: eine Wertung gebe ich bei Radiohead lieber nicht ab, die wäre immer exorbitant, bei so ziemlich fast allem… wenn ich Fan bei, dann hier … von meiner Seite gäbe es bis jetzt bestimmt etwas zwischen 87 und 89%.

  5. […] Track-by-Track: Radiohead – The King Of Limbs – auftouren.de Radiohead – The King of Limbs: First review – Guardian Radiohead The King of Limbs Review – BBC Radiohead, ‘The King Of Limbs’ – First Listen – NME Radiohead’s ‘The King of Limbs’ Strikes Beautiful Balance – WSJ Radiohead’s ‘The King Of Limbs’: A Track-by-Track Breakdown – Rolling Stone […]

  6. Pascal Weiß sagt:

    @Bernd: Ein Wertungsbalken, nachdem wir das Album nachweislich erst einen Tag haben? Dann müssten die Leser ja glauben wir machen das immer so;)

    Jetzt drei Durchgänge. Für mich das beste Radiohead-Album seit Amnesiac. Von mir gibt’s 86.

  7. Markus sagt:

    Nach drei Tagen fast in Dauerschleife würde ich wie folgt voten:

    Pablo Honey 73%
    The Bends 75%
    OK Computer 91%
    Kid A 94%
    Amnesiac 92%
    Hail to the Thief 80%
    In Rainbows 82%
    The King of Limbs 79%

    Zweite Hälfte von „King Of Limbs“ finde ich deutlich stärker als die erste.

  8. Pascal Weiß sagt:

    Pablo Honey 68%
    The Bends 82%
    OK Computer 90%
    Kid A 90%
    Amnesiac 92%
    Hail To The Thief 84%
    In Rainbows 83%
    The King Of Limbs 86%

    Ich persönlich finde King Of Limbs als Ganzes sehr überzeugend, erinnert zuweilen wirklich zum ersten Mal wieder an die guten Amnesiac-Zeiten. Müsste ich mich aber für eine Hälfte entscheiden, dann würde ich die erste knapp favorisieren.

  9. Plor sagt:

    Yeah, Prozente :)
    Pablo Honey 69%
    The Bends 80%
    OK Computer 90%
    Kid A 98%
    Amnesiac 95%
    Hail to the Thief 84%
    In Rainbows 86%
    The King of Limbs 89%

    Gefällt mir bis jetzt sehr gut das Album… Scheint mir sogar tatsächlich die Beste seit Kid A/Amnesiac zu sein.
    Sehr schöne Track-by-Track Rezi auch. Da habe ich einige meiner Gedanken beim Hören wiedergefunden.

  10. Lennart sagt:

    @Plor: besten Dank! und wenn’s Listen gibt, dann mag ich nicht hintenan stehen…:

    Pablo Honey 65%
    The Bends 85%
    OK Computer 90%
    Kid A 93%
    Amnesiac 95%
    Hail To The Thief 79%
    In Rainbows 85%
    The King Of Limbs 87%

  11. Bastian sagt:

    Großes Nerdkino hier. Bei Radiohead ist das bei mir irgendwie ziemlich stimmungsabhängig, welches Album ich am liebsten mag. Das neue würde ich aber irgendwo zwischen „In Rainbows“ und „Hail To The Thief“ ansiedeln, welches für mich eindeutig das schwächste der ooer Jahre-Radiohead ist.

  12. Bastian sagt:

    Haha, sehr gut!

  13. […] Album, dessen Schatten auf die aktuelle Musikindustrie bei jedem Hören größer wird. Lennart von Auftouren knüpft sich auch einen Song nach dem anderen vor und genießt dabei ein sowohl bescheidenes als […]

  14. it's been a long winter sagt:

    Hey Jungs, wie siehts mit eurer Rezension aus? Wann kommt sie online? Oder kommt gar keine und ihr belässt es beim Track-by-Track? =)

  15. Pascal Weiß sagt:

    @it’s been a long winter: Ich denke, dass diese ausführliche Track-By-Track-Rezi schon vieles enthält, was auch in der „gängigen“ Review stehen würde und eine weitere Rezension somit wenig Mehrwert bietet. Wenn es Dir um Wertung geht: Wie den Kommentaren zu entnehmen ist, wäre diese wohl nicht ganz schlecht ausgefallen;)

  16. […] schreiben, denn das wurde schon überall und endlos gemacht, wie zum Beispiel hier oder hier oder hier oder hier oder hier (könnte man lange so fortsetzen…). Bisher gibt es das Album nur als […]

  17. […] Stone etwas nüchterner aus. Wir konnten uns mit der verspulteren Variante von „In Rainbows“ sehr leicht anfreunden, halten nicht wenige von uns das leicht verwandte „Amnesiac“ schließlich für Radioheads […]

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