Grammys 2011: Das Arcade-Fire-Paradoxon

Als vernachlässigbar eingestuft. In weiser Voraussicht umkurvt. Mit zwei Stunden Sicherheitsabstand ins Bett. Doch der Chronist bricht durch und ertastet im Dunkel die Fernbedienung. Dann läuft es also doch, wenigstens für ein Auge, für die Ohren. Eigentlich nicht für die Ohren. Wofür eigentlich?

Über Unsinn und Irrsinn der jährlichen Grammy Awards klärte Kollege Markus bereits im letzten Jahr wunderbar präzise und nachvollziehbar auf. Am vergangenen Sonntag erwartete die Welt erneut großes Spektakel. 20.000 im Staples Center, L.A., Blitzlichtgewitter und Pokalregen, musikindustrielle Vetternwirtschaft, Gaga aus dem Ei. Gähnende Langeweile. Von allen kalkulierbaren Gewinnern sind hier selbst die unkalkulierbaren so überraschend wie die Farbe des Teppichs vor der Halle. Wer da die Kings Of Leon samt „Best Album“-Award im letzten Jahr als kleinen Sieg der Unangepassten feierte, war naiv. Wie verlockend der Gedanke an eine organische, echte Rockgruppe, so amerikanisch jedoch wie nur was. Und keiner erkannte die endgültige strategische Zurückeroberung des Gitarrenmarktes. Bob Dylans diesjähriger Auftritt mit den im britischen Indie längst verbrannten Mumford & Sons unterstreicht die Ansprüche. Nicht solche der Musik. Sondern die Ansprüche derer, die sie vermarkten.

109 verschiedene Grammy-Kategorien würden für jede der AUFTOUREN-Lieblingsbands eines Jahres im Schnitt mehr als zwei Awards bedeuten. Ganz klar: Die Grammys sollen alles bieten, außer Enttäuschungen. Und dann das: Arcade Fire gewinnen den Award für das beste Album. Gerade wegen der für tolle Bands abfallenden Kollateralpreise in dafür geschaffenen Kategorien – das ist eine echte Überraschung. Für die Kings Of Leon war eben dieser Grammy die endgültige Abspaltung von Fans der ersten Stunde. Fans von Musik, Fans von Amerika, Fans von Gaga, Shady, Lady Antebellum und Perry wollten am Sonntagabend nicht glauben, was sie da sahen. Jede der anderen Nominierungen hätte sie wohl noch irgendwie versöhnt. Arcade Fire jedoch nicht. Sie machten ihrer Fassungslosigkeit bei Twitter und Facebook Luft. Eine Band wie The Suburbs, noch ohne Nummer-Eins-Hit zumal, gewinnt mit dem Album Arcade Fire. Oder andersherum? Jedenfalls kennt man sie nicht, das ist doch was zählt. Eine kleine Sternstunde des sozialen Netzwerks ist das. Zugleich die prägnanteste Bloßstellung der Funktionsweisen einer Veranstaltung wie den Grammys und der Funktionsweisen einer ganzen Musiknation.

twitgram

„What the hell?“ sagte dann Win Butler, umringt von seiner ebenso geschockten Band auf dem Podium. Ohne Zettel in der Tasche, ohne Ahnung, ohne Schauspiel. Ohne zu wissen, dass er dem späteren Ton im Netz damit vorgreifen könnte. Applaus war kaum zu vernehmen. Arcade Fire kommt nicht nur ein verdienter Preis zu, sondern auch eine Erneuerung ihrer Glaubwürdigkeit bei der Basis. Unschuldige, vernichtende, abschließende Worte zum wohl größten populären Musikpreis: „We’re gonna go play another song, ‚cause we like music.“

5 Kommentare zu “Grammys 2011: Das Arcade-Fire-Paradoxon”

  1. René sagt:

    hihi, schön auch gestern bei den Brit Awards, als sie von Boris Becker (!) einen Brit Award für „Best International Album“ bekamen: „Hi, we’re called The Arcade Fire, thank you very much! Check it out on Google!“ :D

    http://www.youtube.com/watch?v=dieAQJYlnU0

  2. Heffer sagt:

    Mir ist das ein bisschen schleierhaft.
    Warum sollte die keiner kennen, Nummer 1 Album in USA etc reicht doch aus um sich als bekannt zu fühlen, denke ich.

    Wegen mir mögen sie ja als Underdog gewonnen haben, aber die Leute, die nicht vom Handy aus getwittert haben, sind wohl nicht die schlauesten.

    Ich hab nicht viel Ahnung von Twitter, aber die Auswahl in dem obigen tumblrblog waren ja x-beliebige Leute, oder?
    Wenn jemand twittert, dass er was nicht kennt oder weiß, sollte man ganz schnell die augen schließen und versuchen blind wegzuklicken-

  3. Dr. Borstel sagt:

    @Heffer: Die Albumcharts sind aber eher wenig aussagekräftig, da achten die meisten Konsumenten gar nicht drauf. Wichtiger wäre eine gute Platzierung in den Billboard Charts, und die hatten Arcade Fire nie. (Unverdient, da ich einzelne Songs wie „Suburban War“ für deutlich besser als das insgesamt heillos überschätzte Album halte.) Wie dem auch sei, ich gönne es der Band nur zu sehr. Vielleicht kommt dem ein oder anderen Amerikaner nach der ersten Aufregung ja vielleicht der Gedanke, dass seine Unkenntnis bezüglich der Band nicht an dieser oder den Preisverleihern liegt, sondern, Gott bewahre, bei ihm selbst? Na gut, ist wohl zu optimistisch.

  4. Heffer sagt:

    Suburbs war in den Billboard Album Charts schon auf Nummer 1.
    Dass Arcade Fire bei den Singles nicht ganz oben standen ist nicht weiter verwunderlich, die Hörerschaft ist ja doch eher Albumafin.

  5. Spätestens seitdem man es schon mit 5stelligen Verkaufszahlen auf die Spitzenposition schaffen kann, sind die Albumcharts in der Hinsicht wirklich nicht mit Popularität gleichzusetzen. Wenn ein Indie-Label das schafft bedeutet das in der Regel auch, dass in dieser Woche keine andere große Veröffentlichung anstand.

    Klar, Arcade Fire sind nicht ganz unbekannt, aber von dem Status eines Eminem (dessen Album in seiner sechsten Chartwoche nur knapp und mit viel Mühe von „The Suburbs“ auf den zweiten Platz verdrängt wurde), Justin Bieber oder Lady Antebellum – den großen Abräumern bei der Verleihung, die hier sicher alle bestens kennen ;) – sind sie in der breiten, Singles-orientierten amerikanischen Hörerschaft meilenweit entfernt.

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