Der Liedschatten (05): Rocco Granata / Willi Brandes: "Marina"

1965, als man die Rolling Stones noch ernst nehmen konnte, sang Mick Jagger in einem ebenso benannten Stück: „It’s The Singer, Not The Song“. Dass er dabei nicht an Musik, sondern den Empfang amouröser Gefälligkeiten dachte, sei dahingestellt, Recht hatte er allemal.

Ein kurzer historischer Exkurs oder: „It’s The Song, Not The Singer“

In der Musikindustrie der 50er Jahre aber war man gänzlich anderer Meinung, dort hieß es in vollkommener Umkehrung „It’s The Song, Not The Singer“. Ausdruck erfuhr die (sicherlich ohne böse Absicht) als beinahe selbstverständlich vorausgesetzte Nichtachtung der Vortragenden im Zusammenzählen sämtlicher Absatzzahlen eines Liedes in jeglicher Form, egal ob Erstveröffentlichung oder Cover, aufgrund derer anschließend die Charts gebildet wurden. Dieses Verfahren ist noch geprägt von einer Vorform der Hitliste, Statistiken, in denen ab Ende des 19. Jahrhunderts die Anzahl der verkauften Notenblättern erfasst wurde. Von größerer Bedeutung aber war bis Mitte der 60er Jahre das Fehlen von kommerziell relevanten  Musikern, die ihre eigenen Stücke veröffentlichten. Es gab Autoren, die Hits schrieben, und warum diese nicht gleich von mehreren Interpreten vortragen lassen, wenn es dem Absatz zuträglich ist?

Eine andere Ursache hierfür liegt im Ursprung des Rhythm’n’Blues, aus dem sich der Rock’n’Roll und somit auch, vereinfachend gesagt, die Popmusik entwickeln sollte. In der durch praktizierten Rassismus geprägten US-Gesellschaft war es für afroamerikanische Musiker lange unmöglich, einen wirklichen Hit zu landen. Fernsehen und Radio, die wichtigsten Massenmedien zur Verbreitung von Musik und damit ein Großteil des Publikums, blieben ihnen weitestgehend verschlossen. Da mochte ein Song noch so gut sein, Interpretation und Aussehen der Ausführenden unterlagen strikten Vorgaben. Eine wirkliche Chance hatte der Rock’n’Roll deshalb nur durch weiße weiße Interpreten, zum Beispiel Elvis Presley oder Jerry Lee Lewis.

Auch die vorherrschende Veröffentlichungsform der Single begünstigte Neuaufnahmen. Eine solche nahm nur wenige Stunden in Anspruch, warum also nicht schnell auf einen Hit reagieren? Denkbar wäre folgendes Szenario gewesen: man erwarb eine Single in New Orleans, fuhr fix heim nach Indianapolis und ließ sie von einer heimischen Tanzkapelle neu einspielen. Und schon hatte man in einer von Lokalmedien geprägten Öffentlichkeit die Möglichkeit, einen kleinen Hit landen. Dieser ist aber nicht nur mit dem Verkauf vieler Tonträger gleichzusetzen, nicht jeder besaß einen Plattenspieler, neue Musik lernte man über Jukeboxen oder Darbietungen meist ansässiger Gruppen kennen. Trotz lokalen Bezugs standen nicht die „Persönlichkeiten“ einer solchen Tanzkapelle, sondern das Reportoire im Vordergrund. Nicht nur Rock’nRoll, auch andere Musik wurde nicht zwangsläufig nach Genre, sondern Tänzen unterschieden und zu solchen wurde aufgespielt, dabei gab es keinen Raum für unbekannte Kompositionen.

Und wen interessierte außerdem, was der Bandleader privat so treibt, solange er die richtigen Stücke kennt? Popmusik existierte noch nicht, ihr fehlte das Selbstbewusstsein als Kunstform, im Rahmen derer man sich etwas auf die Urheberschaft einbilden könnte. All das sollte sich spätestens durch die vom Erfolg Bob Dylans und der Beatles angestoßenen Entwicklungen grundlegend ändern, bis dahin war eine Coverversion, ganz anders als die Einheit von Autor und Interpret, Gang und Gäbe.

Rocco Granata / Willi Brandes „Souvenirs“, Januar – März 1960

dalida

Bei Rocco Granata (übrigens kein Künstlername) hingegen ist sie gegeben, die erste Pressung seines größten Hits „Marina“ finanzierte er sogar selbst und wurde so zusätzlich sein eigener wirtschaftlicher Produzent. Der Erfolg des simplen, beschwingten Stückes in der BRD verwundert nicht, verband man doch mit der ehemaligen Achsenmacht Italien in den 50er Jahren durchweg positive Assoziationen. Da mochte Granata auch in Belgien aufgewachsen sein, er sang auf Italienisch, und dorthin, wo „die Zitronen blühen“, ließ man sich nicht nur in Gedanken gerne mitnehmen. Weite Teile der Bevölkerung waren Ende der 50er motorisiert und machten sich also zwecks Urlaubsvollzugs auf den Weg.

Zwar wären auch andere Länder leicht zu erreichen gewesen, vielleicht fühlte man sich aber in den zahlreichen europäischen Nachbarstaaten, die man vor gar nicht allzu langer Zeit mit Krieg überzogen hatte, nicht so recht wohl. Italien mochte da gleichermaßen vertrauenerweckender wie auch vertrauter gewesen sein. Einer der erfolgreichsten Schlager, die „Capri-Fischer“, wurde bereits 1943 komponiert, doch dummerweise waren da schon die Alliierten in Capri gelandet. Die Veröffentlichung wurde verschoben, erfolgte erst 1950 und begründete ein ganzes Subgenre, in dem Italien verklärt zum Ideal des sonnigen Lebens erhoben wird. Das Klima dort ist ja nun auch wirklich besser.

„Marina“ wurde in italienischer Sprache ein weltweiter Hit, und ihm widerfuhr nun dasselbe wie zahlreichen anderen Stücken: es wurde gecovert. Was eben noch nett und belanglos war und sich sogar durch ein für einen Schlager sympathisches Understatement in Sachen Arrangement auszeichnete, wurde von Willi Brandes in deutscher Sprache adaptiert und nun endgültig unverzeihlich debil. Die Verkaufszahlen des Originals und der Bearbeitung aber wurden zusammengezählt. Ging es ursprünglich noch darum, so schnell wie möglich zu heiraten, wird die Marina nun (weil sich’s halt so schön reimt) zur Ballerina. Streicher schleichen herbei und sorgen für eine Süßlichkeit, in deren Schwaden sich das Akkordeonsolo nicht trotz, sondern wegen seiner Virtuosität ungehobelt, berechnend und plump ausnimmt. Jedes Wort wird so süffisant wie möglich hervorgegreint, von Schlichtheit keine Spur.
Aufgepasst, Marina, dieser Herr Brandes hat keine ehrbaren Absichten!

5 Kommentare zu “Der Liedschatten (05): Rocco Granata / Willi Brandes: „Marina“”

  1. […] Elvis“ machte. Man spare sich bitte den Spott, Coverversionen waren einfach, wie schon an anderer Stelle ausgeführt, üblich. Und so dumm war der Gedanke, das Idol Elvis Presley als Franchisekonzept […]

  2. […] gemeinsam an der Spitze der deutschen Singlecharts. Mit dieser Praxis hatten wir uns ja an anderer Stelle schon einmal beschäftigt. Auch das Covern eines Stücks in der entsprechenden Landessprache […]

  3. […] Absicht dahinter ist folgende: davon ausgehend, dass bisher allein Rocco Granata zugleich Urheber, Texter und Interpret seines Stückes war, liegt die Vermutung nahe, alle anderen […]

  4. […] verheiratet. Obendrein textet diese nebenbei selbst (u.a. für die deutsche Version des Liedes „Marina“). Sogar das gemeinsame Kind, ebenfalls Elisabeth geheißen, brabbelt verkaufswirksam im Hit […]

  5. […] das deutschsprachige Programm bei Radio Luxemburg, außerdem Texterin der Bearbeitungen „Marina“ von Will Brandes und Bernd Spiers „Memphis Tennessee“), die seit 1959 mit dem Komponisten […]

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