Das Musikorakel: Bands für 2011

Die Parallelen zwischen „Musikorakel spielen“ und „an der Börse zocken“ sind verblüffend. Beide Male wettet man auf die Zukunft, prognostiziert Wert- und Erfolgsentwicklungen, basierend auf allerlei Theorien und Informationen: Wie sehen die aktuellen Quartalszahlen aus, wer bloggte bereits über diese Band? Welche internationalen Beteiligungen ist der Konzern neuerdings eingegangen, welches Label hat diesen Künstler gesignt? Ist die Firma zukunftssicher, trifft der Act den aktuellen popkulturellen Geschmack? Aber auch die detailliertesten Kenntnisse und das fundierteste Insiderwissen reichen Mal um Mal nicht aus, um die Trefferquote annähernd auf 100% zu bringen. Selbst in Addition mit „Bauchgefühl“ und „Geisterbeschwörung“ geht das nicht unbedingt gut aus – viel zu viel im Leben hängt dann doch noch von vielen anderen Faktoren ab, die den Ausschlag in die blakeeine oder andere Richtung geben: Wird sich der Daumen heben oder senken? Oft gibt es dabei nur die eine einzige Chance, die über Bestehen oder Untergang richtet. In der Musikbranche sind dabei Glück und Medieninteresse nicht unentscheidend. Aber überhaupt: Wie definiert man eigentlich „Erfolg“?

Kommerziell dürfte die Kombination aus charttauglicher Produktion, weiblicher Stimme und Majorlabel (bevorzugt aus dem Universal-Konzern) wie auch in den letzten Jahren unschlagbar sein. Praktisch, dass da mit Natalia Kills und Jessie J gleich zwei als selbstbewusst-frech vermarktbare Sängerinnen bereits auf der musikalischen Matte stehen. Ein bisschen crazy, ein bisschen H&M-punkig, dann läuft die Schmiere wie von selbst aus der Maschinerie, die auch wie jedes Jahr von der BBC-Longlist angestupst wird, wie der wichtige erste Stein beim „Domino Day“ auf RTL. Jahr für Jahr tragen dort britische Kulturjournalisten ihre Prognosen vor, wem der Durchbruch gelingen wird – und zumindest viele Kritiker scheuen sich nicht, diese Liste wieder und wieder zu zitieren, jessiejobwohl man inzwischen davon ausgehen muss, dass bei etwas ziel- und trendlosen Jahren wie 2010 die Ausbeute bis auf ein paar todsichere Kandidaten eher gering ausfällt. Im letzten Jahr standen dort beispielsweise Daisy Dares You, Devlin, Giggs, Everything Everything und Stornoway auf „Durchbruch“ –bei vielen blieb es bei nicht mehr als einer dürftigen Randnotiz in der Geschichte des Pop. Die 2011er-Longlist ist ebenfalls nicht unbedingt ein Garant für spannende Unterhaltung und Hitqualität, allerdings ist es wie immer auch äußerst schwer, den musikalischen Output anhand nur weniger Tracks einzuschätzen, die diese Künstler erst aufgenommen haben – zumindest bei Jai Paul, Anna Calvi und den gradlinigen Mona hat man das Gefühl, dass da zumindest ein recht anständiges Album erwartet werden darf. Einen Schritt weiter sind bereits The Naked & Famous, die ihr kunterbuntes Werk mit vier wahnsinnigen Killersingles zwischen The Sounds und frühen MGMT demnächst auch außerhalb Neuseelands veröffentlichen.

Falls der Trend tatsächlich wieder Richtung Garagen/Rock schlagen sollte (irgendwann muss es ja mal wieder sein), haben The Vaccines gute Chancen, woonihre Gitarren unters Volk zu mischen. Der NME nannte sie bereits das „worst-kept indie-secret“ der Stadt, was nun jedoch auch nicht allzu viel heißt. Vielleicht ist statt eines „Mehr“ an Rock auch ein „Mehr“ an Entschleunigung zu erwarten? Daley’s Songs machen zwischendurch gerne ein Mittagsschläfchen und auch der fulminante Neo-Gospel von James Blake (an dieser Stelle werden durchaus Wetten auf viele Jahres-Endlisten-Nennungen zu einer mickrigen Quote angenommen) nutzt Stille und Reduktion, um den Wirkungsgrad seines Outputs zu erhöhen. Auch Dubsoul-Produzent James Woon spült seine Songs eher lässig aus dem Laptop – zumindest aber lassen „Blue Truth“ und „Night Air“ definitiv hellhörig werden.

Noch tiefer im Untergrund ist die Lage so kompliziert und unübersichtlich wie nach einem Selbstmordanschlag in Bagdad. Ganze 54 Bands listete im internen Forum die AUFTOUREN-Redaktion nach einem kurzen Brainstorming, die die volle Palette zwischen zuckersüßem Indieklang (The Joy Formidables), den schrammeligen Minks (könnten Wild Nothing auf Captured Tracks beerben) und UK-Funky-Produzenten wie Jook 10 reicht. Bloß auffällig: Mit Ghostpoet, guWretch 32, Erykah Badus Partner Jay Electronica und Dels sind nur wenige Rapper vertreten, die oftmals auch zu grimig-englische Beats haben, um auf breiter Basis in Deutschland erfolgreich zu sein. Anscheinend schickt sich 2011 an, das Jahr 2010 als überflüssigstes HipHop-Jahr abzulösen. Denn auch wenn sich Kanye West auf diversen ersten Plätzen in den Jahrescharts sonnt – viel Spannendes gab es in diesem Genre wahrlich nicht zu entdecken. Für diesen Bereich traf übrigens unsere Prognose aus dem letzten Jahr vollkommen zu, beim Rest muss man selbstkritisch anmerken, dass zwar die Tendenz vielleicht stimmte, aber die Namen nicht. Wobei man da auch einschränken muss: Viele der Bands und Künstler haben diesen Jahr nicht releast, und vermutlich wird es uns entsprechend genauso gehen, wenn wir Namen wie die UK-Hoffnung Trophy Scars, den Dubstep-Produzenten Dark Sky und Electroboy Girl Unit in den großen Topf schmeißen, um einfach mal willkürlich ein paar mehr Namen zu nennen.

Die großen Trends sind nicht zu erwarten, aber weiterhin watteweicher, verhallter Indiepop. Die Cults haben bisher zwar nur zwei Singles veröffentlicht, die sich aber ebenso wie Tennis, Violens, Twin Sister oder die M83-Sängerin White Sea für ein Exzellenz-Stipendium bewerben. Natürlich wird es auch wieder neben die Spur Gefahrenes geben – in diesem Jahr war besonders das Label Olde English Spelling Bee dafür zuständig. Kandidaten wie Autre Ne Veut mit kompromisslos in der Musikgeschichte wühlendem cultsSchäbig-Soul oder Outer Limits Recordings (mit so göttlichen Zeilen wie „Juleeeee, you don’t have to kill just to be happeeee…“) werden hoffentlich noch für weitere erfreuliche Dreiminüter sorgen.

Nachdem in diesem Jahr Dubstep für tot erklärt wurde, leben die unterschiedlichen Aufsplitterungen weiter und tragen das Erbe in sich. Sepalcure und Subeena vereinen sich mit 90er-House, Walsh tut so, als ob es 2-Step nicht schon gegeben hat und Katy B geht die Sache auf dem Label Rinse etwas fruchtiger an. Alles geht in 2011. Besonders gut jedoch elektronisch: Wise Blood attackiert mit Klavier, Rock und einem nervösen R’n’B-Sound, Space Dimenson Controller heben gleich in eine andere Galaxie ab. Stilistische Grenzen werden mehr und mehr durchbrochen, es wird der Festlegung gescheut. Wer diesen durchaus mutigen Schritt nicht bereit ist zu gehen, versucht sich vielleicht besser in der Zusammenfassung des Vorangegangenen. Creep auf Young Turks mischen Witch-House-Klänge mit UK-Funky-Beats und holen sich die The-XX-Sängerin Romy mit an Board, Tanlines resümieren die Tropical-Entwicklungen der letzten beiden Jahre und SBSTRKT knallt Dancefloor, Soul und Coolness zusammen.

Wolf Gang – Back To Back (Active Child remix)

Wolf Gang hat trotz äußerst bescheuertem Bandnamen auch noch einen Deal mit Warner abgeschlossen – man darf gespannt sein, ob seine Surf- und Indiemucke 2011 noch Relevanz erhaschen kann. Vielleicht ist er auch bloß für Singles gut, neontreesdenn One-Indie-Hit-Wonder wird es mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit auch wieder geben: Rizzle Kicks könnten da die Trompeten schneller wieder einpacken, als Dale Earnhard Jr. Jr. ihren glückseligen Hippiepop ins Mikro gesäuselt oder Yuck ihre Gitarren auf „cool & noisy“ gestimmt haben. Während die einen sich ins Koma shoegazen oder wie Porcelain Raft etwas angestrengt „indie“ klingen wollen, nehmen einige einfach die Westerngitarre in die Hand und machen es wie seit Jahrzehnten: Letztlich zählen die Songs, das wissen Lord Huron und Kurt Vile oder auch seine Kollegen von The War On Drugs ganz genau. Spielend befreien sie sich von der „Ohnmacht der Möglichkeiten“, dem ganzen Getue um Aufmerksamkeit, Aktualisierungswahn und Trends. Dass dadurch ihre Aktien nicht unbedingt sinken, ist sicherlich bewusster Teil des Spiels, das sich auch 2011 Musikbusiness nennt.

2 Kommentare zu “Das Musikorakel: Bands für 2011”

  1. Rinko sagt:

    Ich persönlich liebe ja diesen ganzen Watchout-Kram sehr! :)

    Jamie Woon sehe ich halt den Indie-Mädels und wird hoffentlich nicht so verheizt und mies produziert wie Ellie Goulding. Mir fehlt noch J Cole bei den großen Hip Hop Hoffnungen für 2011.

    The Vaccines kannte ich noch nicht und bedanke mich artig für den Tip!

    Hier übrigens unser Orakel:
    http://seite360.de/2010/12/07/2011-die-newcomer-%E2%80%93-seite-360-wagt-einen-blick-in-die-zukunft/

  2. […] der drohenden Apokalypse eher doch eine fragwürdige Sache ist, versucht sich das AUFTOUREN-Team traditionsgemäß an einer orakelnden Vorschau für das kommende […]

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