Girl TalkAll Day

Girl Talk alias Gregg Gillis wäre der perfekte Arbeitnehmer. Einer, der sich aufopfert für seine Firma, akribisch, sauber und penibel Akten ordnet und notfalls sogar in mühsamer Kleinstarbeit die Papierschnipsel wieder zusammenklebt, die versehentlich in den hungrigen Schlund des Schredders geraten sind. Ein echter Workaholic, zu dessen Hobbies vermutlich auch puzzeln und Nippes sammeln gehört. Er hat die Ruhe weg. Nebenbei rieselt das Dudelradio das Beste der 70er, 80er, 90er und das Allerbeste von heute in der maximalst möglichen Hitdichte in den Äther.

Nur so lässt sich die Abwegigkeit erklären, dass es dem 29jährigen eine diebische Freude ist, mit digitalem Heißkleber Song-Versatzstücke aus ihrem Originalkontext herauszureißen und in einen differenten Zusammenhang zu stellen, um so neue Bedeutungsdimensionen zu generieren. Sampling heißt diese Technik, die spätestens seit den 80ern zu einem der mehrheitsfähigen Akte der Musikproduktion gehört. Meist erscheint diese Copy’n’Paste-Taktik gerahmt von eigenen Ideen, die auf diesem Sample aufbauen oder einfach eine gelungene Akkordfolge, Melodie oder Hookline ins eigene Schaffen integrieren. Wer kennt sie nicht, die rauhändigen HipHop-Tracks, die spätestens im Refrain bekannt Liebliches aufgreifen?

An diesem ästhetischen Prinzip ist in seiner Grundsätzlichkeit nichts auszusetzen – gerade auch in der bildenden Kunst sind Collagen als subjektive Sichtweise auf die Welt zentraler Bestandteil, weil der bewusste Auswahlprozess der Ursprungsmaterialien bereits zum eigentlichen Kunstschaffen gehört. Bei Girl Talk beginnt dies in der kleinteiligen Archivierung und dem stundenlangen Durchforsten aller verfügbarer Plattensammlungen. Gigabytevolle Festplatten mit Tracks im Originalzustand, herausgeschraubten Songschnipseln, skelettierten Beats und herausgefilterten Vocals – ein Bausatzsystem, das ihm ermöglicht, später all diese Einzelteile zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzusetzen, in dem bisweilen die Bruchstücke bis zur Unkenntlichkeit verkürzt sind. Mit großen Löffeln langt er zu, frisst sich quer durch den dickbändigen Klassiker „Popgeschichte der Menschheit“, verschlingt viele Seiten auf einmal, manchmal komplette Kapitel: Black Sabbath, Jay-Z, M.I.A., Gang Starr, Beastie Boys, Kid Cudi, Deftones, The Doors, Outkast, Neil Diamond, Arcade Fire, Mr. Oizo, MGMT, Cindy Lauper. Dekaden trennen nur Sekunden, Geschmacksgaranten und peinliche Lieblingshits ebenso. Vom Undergrund bis zur Nummer 1 werden Karrieren im Schnellschritt nachvollzogen, für mehr bleibt keine Zeit.

Das Problem der Rechte an den Originalsongs umgeht der Pittsburgher mit Cleverness: Nur wenige Sekundenetappen trennen die Samples, die Schichtung und der „Mash Up“ vollziehen sich in einer waghalsigen Hatz, die aufgrund ihrer Geschwindigkeit erstaunen und in ihrer Hektik kaum den Pulsschlag senken lässt. Wenigstens bietet wikipedia.com der Unübersichtlichkeit Einhalt, das die bisher identifizierten Titel detailliert protokolliert. Selbst die Avalanches oder 2Many DJs, die dieses Sampling-Prinzip vor Jahren geprägt haben, werden von Girl Talk zu Statisten degradiert. Er flutet sein fünftes Album randvoll mit Samples, so dass „All Day“ ausschließlich aus Fremdmaterial collagiert ist. HipHop-Vocals halten meist die Tracks zusammen, während durch die Genre-Schubladen gebrettert wird. Die Brüche sind meist gut geflickt und gewähren Nachvollziehbarkeit – nur selten wirkt das Stückwerk unfertig aneinandergetackert.

Zwanzig, gar dreißig Originalspuren geben sich gerne pro Song die Klinke in die Hand, beschnuppern sich und gehen ungewöhnliche Kombinationen ein. Die kumulierte Überfrachtung. So nimmt Depeche Modes „Can’t Get Enough“ Pitbull huckepack und Arcade Fires “Wake Up” trifft auf Ginuwines “Pony”. Phoenix‘ „1901“ geht eine Allianz mit Ludacris ein und bevor man merkt, was eigentlich geschieht, windet sich der Song um die nächste Ecke, um dort wieder das passend zu machen, was nicht eben nicht wirklich passt, sich aber dafür umso eigenwilliger anhört. Die Re-Kontextualisierung kennt keine Gnade, macht vor bereits gesampelten Kandidaten keinen Halt und kontrastiert sogar den harten Ghettorap von Terror Quad mit dem euphorischen „In The Meantime“ von Spacehog, Belinda Carlisles Hit „Heaven Is A Place On Earth“ und andere Schäbigkeiten gewinnen so ganz neue Reize („Down For The Count“ lässt sowieso von vorne bis hinten durchgrinsen), ebenso „Bad Romance“ von Lady Gaga, die gar mit Aphex Twin anbandelt. Von diesen Gegensätzlichkeiten, Verlinkungen und Neubetonungen lebt dieses Album und atmet seine Relevanz.

Was vordergründig spektakulär wirkt, verliert jedoch auf Albumlänge etwas seinen Spaßfaktor. Wer bereits andere Girll-Talk-Alben kennt, dürfte sowieso nur kurzfristig euphorisiert werden. Das Prinzip ist eben blitzschnell durchschaut und auch wenn das Mitraten der gesampelten Songs durchaus fesselt, nutzt sich dieses (bitte am Stück gehörte!) Werk recht zügig ab. Nichtsdestotrotz ist „All Day“ ein splittriges Pop-Energetikum, das leidenschaftlich am Riesenrad dreht und Lust hat, das Große im Kleinen zu verstecken.

PS: Wikipedia listet inzwischen alle gesampelten Songs. Alle erkannt?

Das komplette Album kann man gratis an dieser Stelle herunterladen.

64

Label: Illegal Arts

Referenzen: HipHop, Hits, 80er-Jahre-Scheußlichkeiten, Häcksler, Mixer, Kettensäge

Links: Myspace, Label

VÖ: bereits erschienen

Ein Kommentar zu “Rezension: Girl Talk – All Day”

  1. Michi sagt:

    Macht echt Spaß und kommt ziemlich gut auf Partys.

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