Das Tanzfestival: Dour 2010 (Teil 1)

Donnerstagmorgen. Es ist gleichzeitig zu spät und zu früh. Eigentlich zu spät für den Zug, aber definitiv zu früh um so schnell auf den Beinen zu sein. Der Zug von Dortmund nach Köln ist geschafft, die Überheblichkeit weicht Demut: meine Begleiterin ist bereits seit drei Stunden von Berlin aus unterwegs. In Köln gibt es Zugbindung. Ob der ICE von Berlin Verspätung habe? Ja. Ob er auf unbestimmte Zeit stehe, weil man Passagiere eines völlig fremden, liegengebliebenen Zuges aufnehmen müsse? Ja, ganz bestimmt. Doch der Thalys wartet und es geht dank günstiger Restbestände erster Klasse nach Brüssel. Einige Nerven verbleiben auf den Stufen zum Dom. Aber: Gratis Essen, gratis Getränke und man traut sich erst gar nicht, etwas zu bestellen. Als dann die wirklich erstklassigen Passagiere offensichtlich kein Geld für Kaffee entrichten, erlaubt man sich, sich doch noch ein Mal an die bilinguale Dame hinter dem kulinarischen Rollwägelchen zu wenden. Nur in Festivalstimmung kommt man so gar nicht. Immerhin weiß man noch nicht, dass selbst Mehrsprachigkeit ein Gut ist, dass es offenbar nur in der ersten Klasse ohne Weiteres gibt.

Mit der Bahn zum Festival und wir wissen früh, dass das viel Schlechtes birgt. Eine weitere unsaubere Bahnepisode später ist man aber dann doch im Shuttlebus von St. Ghislain zum Festival, durch enge Gassen, keine 20 Kilometer zur französischen Grenze. Zudem mit Zwischenhalt bei der Polizei. Dem Dour eilt sein berauschter Ruf voraus. Auffällig, dass sämtliche dunkelhäutige Menschen als Erste den Bus zur Stichprobe verlassen müssen. „Sonnenbrille runter – seriös jetzt“, sag ich noch zu meiner Begleiterin. Es wirkt, wir fahren weiter und kommen an. Das Ziel Wild Beasts um 17 Uhr scheint realistisch. Der Umtausch des Presse-Wisches in ein eintrittsbefähigendes Bändchen zieht sich abartig lang hin. Irgendwer hat ein Problem. Bändchen dran, mit dem Namen meiner Begleiterin jedoch – nochmal warten. Die Uhr tickt, aber es ist geschafft, die Bändchen sind dran. Nur in Festivalstimmung ist man noch nicht.

Auch die Suche nach dem vorgesehenen Campingplatz bei den Volunteers ist schwieriger als gedacht. Denn das Wort „Volunteers“ versteht das Ordnungspersonal nicht recht. Vorhang auf für den ersten von vielen Akten zum Thema Sprachbarriere, die die Nähe zu Frankreich bewusst macht und als Erklärung aufzwingt. Gestenreich wird man also in irgendeine Richtung geschickt, eine Britin mischt sich lächelnd ein: „Oh yes, camping for press! There’s absolutely no information about that“. Der Ordner nickt freundlich zustimmend. Ein Einzelfall denkt man sich und findet nach drei weiteren Herren im Dour-Shirt, des Englischen leider nicht mächtig, mit gebrochenem Französisch doch noch den Campingplatz. Wild Beasts wird tatsächlich geschafft. Kein Bier drin, kein Wein, kein Drink, beinahe impressionslos übers Festivalgelände gesprintet, vor die Bühne im Zelt, der „Club-circuit Marquee“. Eins von vier Zelten auf dem Dour, neben zwei großen Bühnen. Es ist fünf nach Fünf, kaum jemand steht vor der Bühne. Festivalstimmung? Ich weiß nicht.

Doch Wild Beasts sind eine wahnsinnig gute Live-Band. Das erschreckend reife Songmaterial wird auf der Bühne noch einmal um eine Stufe erhöht. Dynamisch, talentiert und mit zwei herausragenden Sängern ausgestattet, ziehen die schüchternen Briten immer mehr Menschen an. Der auf der Tour im Frühling angedeutete, hervorragende Live-Ruf bestätigt sich voll und ganz. Später wird man ihnen noch einmal auf dem Festivalgelände über den Weg laufen und ruhige, sympathische, junge Herren erleben. Ein großer Zufall, hat das Festivalgelände doch durchaus seine Ausmaße. Nervig nur, dass man auf dem Weg dorthin keine Wahl hat und an unzähligen Händlern vorbeikommt. Am zweiten Tag entdecken wir den direkten Weg von unserem Campingplatz zum Gelände und müssen künftig nur noch ein Viertel der Strecke, ohne Händler, zurücklegen. Selbst für zwei Personen kann die Alkoholversorgung, so man mit der Bahn anreist und sich entschließt aus Gründen des Gewichts nur etwas Hochprozentiges abzufüllen, zu einigen Schwierigkeiten führen. Der Supermarkt am Festival führt keinen Alkohol und auf der Suche nach dem nahegelegenen Lidl ist da wieder die Sprachbarriere. Es wird also vor der eigentlichen Frage zuerst nur nach der englischen Sprache an sich gefragt. „Speak English?“ – „Oh, yes!“ – „You know where we can find the Lidl-Store?“ – „Yes! Tout droit et après…“ – Es ist furchtbar. Die des englischen Mächtigen wollen also nicht. Der nahegelegene Lidl ist 20 Minuten Fußmarsch entfernt und schließt vor unseren Augen um 19 Uhr. Dafür ging Get Well Soon drauf. Also gibt es mitgebrachte Würstchen und Hochprozentiges statt Bier, gegen aufkommenden Frust und für eine Nacht, die noch so manchen Kracher und Favoriten bereithält. Das Zeug wirkt und die Sonne steht schon tief. Von den Maccabees hört man Gutes bis zum Campingplatz. Auch verpasst. Immerhin kommt langsam Festivalstimmung auf.

Und so platzen wir bei Wovenhand, heute mit den Geigern von Muzsikas, in ein volles Zelt und ein tolles Konzert. Ein schöner Kontrast zwischen aushallenden Countryfragmenten und tanzbarer Folklore, die die Menge auf dem Bretterboden besonders gut annimmt. Der letzte Gitarrenanschlag geht praktisch direkt in den Beginn von Faith No More auf der Hauptbühne über. Als man auf dem Weg irgendwohin daran vorbeikommt hört sich das nicht schlecht an. Sie spielen gerade „Evidence“, und so viel Funk passt in eine Ballade. Aber das Interesse hält sich dann doch nur bis zur nächsten großspurigen Ansage. Nein, irgendwie klappt das nicht. Viel gespannter durfte man da wohl auf Moderat sein. Die drei Herren auf der Bühne, jeder Einzelkünstler am Pult, gebündelt durch tiefenscharfe Visualisierungen im Hintergrund. Gerade im Zelt funktioniert das prächtig. Düstere, stampfende Beats mit einer leider etwas zu präzisen Übereinstimmung von Musik und Visuals. Die Euphorie im gesamten Zelt erstickt aber jeden Gedanken an Playback. Auch Simiam Mobile Disco spielen ihr Repertoire sicher runter, nicht viel mehr, aber eben auch nicht weniger. Die Leute ziehen mit, immerhin ist das die Hauptbühne. Und so reift der Verdacht zur Erkenntnis: Die Djs haben auf diesem Festival einen besonderen Stellenwert, die Nacht hat einen besonderen Stellenwert. Es lässt sich zudem sehr gut trinken.

Zwei Uhr ist durch und man sieht schon Sterne. Gleich kommt Gui Boratto ins Zelt und man wird Sternschnuppen sehen. Die erste heißt „Azzurra“ und es wird ein spitzer Schrei ausgestoßen. Schwer zu beschreiben, wie gut alles Weitere ist. Meistens hinter Nebel versteckt, schafft es Boratto dennoch menschlich zu wirken, während vor ihm Shirts durch die Luft wirbeln, Arme in der Luft schwingen und sich Menschen in den Armen liegen. So müssen die Raves in den 90ern ausgesehen haben, die Künstler aus Borattos Generation einst inspirierten. Hochmelodiöse, subtil verführerische Popsongs, für 90 Minuten entführt von Boratto, der heute alles richtig macht.

2 Kommentare zu “Das Tanzfestival: Dour 2010 (Teil 1)”

  1. Vincent sagt:

    Schön geschrieben. Das hört sich doch nicht nur wegen des zwischenzeitlichen Stresses ziemlich aufregend an.

  2. […] solltet euch demnach die Tage vom 14.–17.07. schon mal dick anmakern, denn wie ihr aus dem letzten Jahr vielleicht noch im Hinterkopf habt, könnte für euch allerhand dabei herausspringen. Um ein […]

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