Wer Laurie Anderson zuhört, hat nicht den Eindruck es mit einem normalen menschlichen Wesen zu tun zu haben. Auf „Homeland“ gleicht die legendäre Performance-Art-Künstlerin eher einem transzendentalen Überwesen, eine Inkarnation des wissenden amerikanischen Bewusstseins. Es gibt sogar Beweise für Andersons übersinnliche Fähigkeiten. Als die Lou-Reed-Gattin vor fast zehn Jahren, nur zwei Wochen nach 9/11, ihren unwahrscheinlichen UK#2-Hit „O Superman“ in New York performte, hatte der 20 Jahre alte Song plötzlich eine beunruhigend orakelnde Bedeutungswendung genommen: „Here come the planes. They’re American planes. Made in America. Smoking or non-smoking?”. Viele Jahre sind seither wieder ins Land gezogen, Jahre, die die Amerikaner vor zahlreiche Herausforderungen, Probleme und Rückschläge gestellt und die die 63-Jährige dazu veranlasst haben, ein weiteres Mal ihre Stimme zu erheben. Auf „Homeland“ erzählt sie, in intensive Meditationen eingebunden, apokalyptische Geschichten aus dem Hier und Jetzt.

Natürlich ist „Homeland“ ein hochgradig politisches Album. Angelehnt an Andersons 1984er-Opus Magnum „United States“, das den American way of life in einem fast 4 1/2-stündigen Performance-Art-Stück beleuchtete, stehen der Irak-Krieg, die Rezession, die Klimakatastrophe und viele weitere Themen zur Verhandlung. Doch Anderson ist keine Anklägerin, sondern Beobachterin. Mit messerscharfem Blick sucht sie die Risse und blauen Flecken auf der vor Vaterlandstolz geschwellten Brust und findet eine schizophrene amerikanische Seele, die felsenfest von der Stärke, Sicherheit und Großartigkeit ihres Landes überzeugt ist und sich dennoch verzweifelt nach eben jener Sicherheit sehnt, um den Gefahren des 21. Jahrhunderts widerstandsfähiger gegenüber zu stehen. Die Grenzen zwischen Intimem oder Politischem verschwimmen auf „Homeland“ auf kryptische Weise. „When the tears fall from both my eyes, they fall from my right eye because I love you and they fall from my left eye because I cannot bear you”, heißt es im zerbrechlichen “My Right Eye” und wirft die Frage auf, ob Anderson ihren Liebhaber oder ihr Land meint.

Einige Gäste wurden ins Studio bestellt. Lou Reed selbst fungiert als Co-Produzent, Avantgarde-Arrangeur und –Saxophonist John Zorn greift Anderson unter die Arme und Antony Hegarty und Kieran Hebden (Four Tet) geben Schützenhilfe. Gemeinsam weben sie atmosphärische, oft meditative Klanglandschaften mit elektronischem Unterbau, auf denen mal mehr, mal weniger leicht zugängliche Art-Pop-Songs oder mit robotisch vefremdeter Stimme vorgetragene Spoken-Word-Stücke gebettet werden. Das Ereignis ist aber vor allem Laurie Anderson selbst. Sie ist eine so einnehmende Erzählerin, so kontrolliert und nuanciert artikulierend, sodass ihre weise Poesie auch ganz ohne musikalischen Unterbau funktionieren würde. Ihre größte Waffe ist ihr knochentrockener Humor, der vor allem im kühlen Electro-Querschläger „Only an Expert“ von der Leine gelassen wird. Mit scharfer Zunge zeichnet sie den Teufelskreis zwischen dem unerschütterlichen amerikanischen Selbstvertrauen und den daraus resultierenden politischen, ökologischen und existenziellen Krisen nach.

Das verstörende, 11-minütige Spoken-Word-Opus “Another Day in America” ist das große Meisterstück von “Homeland”, eine Sammlung von alltäglichen Beobachtungen, Anekdoten und zynischen Witzen, die menschliche Befindlichkeiten und die Vergänglichkeit der Zeit observiert. „And you know the reason why I love the stars?”, fragt Anderson mit einer unheimlichen tiefen Roboterstimme, “because we can not hurt them. We can’t burn them or melt them or make them overflow. We can’t flat them or blow them up or turn them out. But we are reaching for them. We are reaching for them”.

78

Label: Nonesuch | Warner

Referenzen: Yoko Ono Plastic Ono Band, Einstürzende Neubauten, Kate Bush, The Knife, Patti Smith, Scott Walker, Antony & The Johnsons

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VÖ: 02.07.2010

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