Tunng...And Then We Saw Land
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Referenzen:
The Accidental, Psapp, Seabear, The Reindeer Section, Múm, Grizzly Bear
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Autor: |
Lennart Thiem |
Als 2008 das wunderschöne Album „There Were Wolves“ von The Accidental veröffentlicht wurde schien die Zukunft Tunngs keineswegs als durch Umbesetzungen bestimmt. Dafür gab es hauptsächlich zwei Gründe: zum einen wurden The Accidental als Nebenprojekt, nicht neue Band das Hauptsongwriters und Sängers Sam Genders angekündigt, zum anderen bekamen weder dieses noch seine damaligen Hauptband überhaupt genügend Aufmerksamkeit um die Frage aufzuwerfen, was den nun aus der Folktronica Gruppe werden würde, man freute sich, so man sie kannte, einfach über eine gelungene Überbrückung bis zum nächsten Album der LondonerInnen.
Mit „…And Then We Saw Land“ ist ein solches nun erschienen – man könnte auch sagen, endlich erschienen, konnten doch das Frühwerk sowie The Accidental durchaus eine interessierte Vorfreude hervorrufen. Jedoch: Sam Genders ist nicht mehr Teil der Band. Dieser Gedanke schwebt über den ersten Tönen des Albums, und würde er nicht an eine beachtenswerte Vergangenheit erinnern, bräuchte man ihm auch nicht weiter zu folgen.
Nun weiß ich nicht, was für ein Mensch der Herr Genders ist, ob er seine MitmusikerInnen bis hin zum Streit reizte oder sein Ego dem gemeinsamen Songwriting im Weg stand, ob die anderen Bandmitglieder die durch ihn eingebrachte Ideen fliehen oder missen mußten. Die Ursachen für das fast vollständige Auseinanderbrechen der Gruppe liegen im Dunkeln und können dort auch bleiben, wichtiger ist die Musik. Beruhigt lässt sich im Hinblick auf diese im Duo Betty Jacobs und Mike Lindsay ein würdiger gesanglicher Ersatz ausmachen, dem nicht anzulasten ist, dass man zwar die schwere, warme Erde sieht, aus der die Lieder erwachsen, die Luft aber nicht von ihrem Duft angefüllt ist.
Denn dass Tunng auf „…And Then We Saw Land“ einen deutlich homogeneren und eher ländlichen als urbanen Folk spielen als auf den drei vorherigen Alben ist vielleicht nicht die schlechteste Idee. Immerhin gelang Midlake so eines der bisher besten Alben des Jahres. Hier jedoch fehlt dessen eskapistische, trotzige Stimmung, der Zustand einer Verlorenheit, die man bewusst in Kauf nimmt und die sich in einer scheinbaren Abwesenheit von Geistesgegenwart bemerkbar macht. Etwas, das die bisherigen Lieder der Briten in ihrer Glitchiness auszeichnete und ihnen den Reiz von mit spröden Eigenarten versehenen, doch liebenswerten Menschen verlieh. Mittlerweile jedoch sind Tunng schlichtweg eine Folkband, und zwar eine Gruppe, die so eigenständig ist, dass sie sich auch von ihrer eigenen Vergangenheit absetzt. Hier gibt es nicht mehr die zögerlich bis zappelige Aufgeregt- und auch Abgeschlagenheit, die noch „Comments of the Inner Chorus“ so bestrickend machte, sondern klar zutage tretenden Ausgelassenheiten („Hustle“), melancholische Balladen („October“) und sogar Folkrock mit Gegniedel („By Dusk They Were In The City“). Letztgenanntes Stück überschreitet dabei anders als zum Beispiel das im selben Genre beheimatete „Don’t Look Down Look Up“ sogar kurzzeitig eine Grenze, die man bisher noch nicht einmal im Mikrokosmos „Tunng“ vermutet hätte.
Offensichtlich ist also dessen Ausdehnung gelungen, nun muss bloß noch überlegt werden, ob das allein schon ein Album auszuzeichnen vermag. Und wer darauf keine Lust haben sollte und dem Fortschrittsdenken auf eine vernünftige Art und Weise abhold ist, der oder die kann sich auch einfach fragen: hebt sich „… And Then We Saw Land“ vom bisherigen Werk der Gruppe ab? Ja, das tut es, und zwar begibt es sich in Gefilde, in denen ein anderes Klima herrscht als das der liebenswerten Schrulligkeit im Unwirklichen. Hier geht es um Songwriting und Arrangements, um das stringente Verfolgung konkreter Ideen im Dienste eines Liedes, dessen Zweck nicht Schwelgerei und Flucht in alternative und per Musik selbstkreierte Zustände ist. 2006 waren Tunng und ihr Album „Comments of the Inner Chorus“ etwas Unvergleichliches, 2010 positionieren sie sich neu und verlieren dabei die Eigenheiten. Sie sind nicht nur erwachsener und gesetzter geworden, sondern auch oberflächlicher und ein wenig leidenschaftslos. Eine Veränderung, die viele Menschen ereilt und die mit Sicherheit auch eher von einem größeren Publikum nachvollzogen werden kann als die Seltsamkeit der älteren Stücke. Wer auf der Suche nach einem Geschenk für sonst eher weniger an der Kunstform Popmusik interessierte Menschen ist kann also getrost auf „…And Then We Saw Land“ zurückgreifen, alle anderen erwerben bitte schleunigst das anrührende „There Were Wolves“ von The Accidental und bewundern dessen erhabene Schlichtheit.
Label: Full Time Hobby
Referenzen: The Accidental, Psapp, Seabear, The Reindeer Section, Múm, Grizzly Bear
VÖ: 26. 03. 2010