Die Wogen haben sich geglättet und kaum jemand spricht heute noch von der „Canadian Invasion“ getauften Welle an Indiebands, die gegen Mitte des letzten Jahrzehnts von den Zentren Montreal und Toronto aus zunächst Amerika und dann auch Europa in Euphorie versetzte. Broken Social Scene kann man dabei getrost als Vorreiter und Mutterschiff einer Bewegung betrachten, die ihre verschiedensten Einflüsse eben nicht nur in der „Influences“-Sektion ihrer Myspace-Profile sondern auch in den Solo- und Bandprojekten der einzelnen Kollektivmitglieder zurückverfolgen ließ und damit den zwischen Retroseligkeit und Folk-Introvertiertheit dahinvegetierenden Indierock mit einer von Uli anlässlich seiner Los Campesinos-Review so treffend beschriebenen “Jetzt erst recht”-Intensivierung ins neue Jahrtausend hinüberrettete.

Das bunte, unentwirrbare Knäuel, in dem damals all die losen Fäden – die das immer schon schwammige Genre während der 90er liegengelassen hatte – in euphorisiertem Eklektizismus wieder aufgegriffen wurden, galt zumindest für einige Zeit als aufregendste Alternative eines so langsam zum aussagefreien Modebegriff verkommenden Indiepoprocks, zumal hier längst vergessen geglaubte Hippieträume vom gleichberechtigten, kollektiven Musizieren wieder neu aufkeimten und so ganz nebenbei Postrock mit Pop versöhnt wurde.

Nun  nach fünfjähriger Pause (lässt man die beiden Broken Social Scene presents … -Alben einmal außen vor) ist das Superkollektiv auf einen zwar immer noch nach allen Seiten offenen, aber überschaubareren und eingespielten Kern zusammengeschmolzen. Prominente Mitglieder wie Leslie Feist oder Jason Collett sind mit ihren eigenen Projekten mittlerweile so erfolgreich, dass sie an der Entstehung des neuen Albums „Forgiveness Rock Record“ höchstens noch partiell beteiligt waren. Aus dem einstigen Wu-Tang Clan des Indierocks ist also eine mehr oder weniger ganz gewöhnliche Band geworden, die wahnsinnige Versuchsanordnung zu Beginn des neuen Jahrzehnts auf Normalbudget zusammengeschrumpft.

Allen Befürchtungen zum Trotz spiegelt sich diese Tatsache aber kaum in den Songs von „Forgiveness Rock Record“ wieder. Schon im vorab veröffentlichten Opener „World Sick“ verpacken Broken Social Scene wieder einmal derart viele Ideen, flirrende Gitarren, Brüche und euphorische Melodien, dass andere daraus eine ganze Karriere zu basteln im Stande wären und auch der Rest des Albums präsentiert sich nicht gerade sparsam. Wer in diesem bunten und überbordendem Potpourri nach roten Fäden und  musikalischen Entwicklungen sucht, hat es naturgemäß nicht gerade leicht. Offensichtlich ist aber, dass die Band auf „Forgiveness Rock Record“ grooveorientierter vorgeht als je zuvor. Was im von Four-to-the-floor-Piano und Disco-Streichern durchzogenen „Chase Scene“ seinen Anfang nimmt, findet in „Art House Director“ seinen Höhepunkt. Indierockgitarren werden hier von funky Blechbläsern so sehr in den Hintergrund gedrängt, dass man sich glatt auf der letzten TV On The Radio-Platte wähnt und als wäre das noch nicht genug, wird man im Mittelteil des Liedes sogar noch mit einem kleinen Intermezzo in Blue Eyed Soul belohnt.

Krautrockfans hingegen bedienen Broken Social Scene im Instrumentalstück „Meet Me In The Basement“. Dieses energetische, auf geniale Art und Weise  den Science Fiction-Rock der Battles  mit Streicherbombast vermählende Math-Prog-Monstrum hätte man sich wohl von keiner anderen Band dieses Planeten so kompakt und catchy vorstellen können. Zudem wird hier eindrucksvoll belegt, dass auch die Wahl des Produzenten mit John Mc Entire genau die richtige war. Der leistete nämlich auch beim darauffolgenden „Sentimal X’s“ hervorragende Arbeit, in dem wirkungsvoll nachhallende Gongs und Pauken erklingen, während Emily Haines, Leslie Feist und Amy Millan auf ihrem leider einzigen Albumbeitrag noch ein letztes Mal an das zauberhafte „Anthem For A Seventeen Year Old Girl“ vom 2002er Durchbruchsalbum „You Forgot It In People“ erinnern und damit sogleich die ruhigere Phase von „Forgiveness Rock Record“ einleiten. Aus dieser wird man nach vielleicht etwas zu langwierigem Verweilen in spacigem Ambient und süßlichem Geflirre erst mit dem betrunken beherzten 90s Indierocker  „Water In Hell“ wieder herausgerissen, in der Brendan Canning auch ganz offiziell die Ankunft der Broken Social Scene im neuen Jahrzehnt bekundet. „It’s the year 2010“, der Hype ist vorbei, Broken Social Scene bleiben über den Zeitgeist erhaben und auch weiterhin schillernd und ungemein berauschend.

85

Label: Arts & Crafts / City Slang

Referenzen: TV On The Radio, Sonic Youth, Pavement, The Go! Team, Architecture In Helsinki, The Most Serene Republic, Los Campesinos, Years, Apostle Of Hustle, Stars, Do Make Say Think, The Sea And Cake

Links: Homepage, MySpace

VÖ: 30.04.2010

10 Kommentare zu “Montags-Preview: Broken Social Scene – Forgiveness Rock Record”

  1. Lennart sagt:

    Eine feine Review, Bastian!

    Die Herrschaften BSS kommen übrigens auch noch auf Tour:

    19.05.2010 – Köln – Bürgerhaus Stollwerck
    24.05.2010 – Berlin – Kesselhaus
    24.06.2010 – München – Backstage Werk
    05.07.2010 – Frankfurt – Mousonturm
    06.07.2010 – Hamburg – Uebel & Gefährlich

  2. Pascal Weiß sagt:

    Da muss dem Geburtstagskind ja heute doppelt gratuliert werden;)

    Tolle Rezi, allerdings mag ich auch die ruhigeren, sphärischen Stücke hinten raus sehr. Allein diese sommerliche Gelassenheit in „Sweetest Kill“, hach.

  3. Bastian sagt:

    Sweetest Kill ist auch super, ja.

  4. […] Broken Social Scene, die mit ihrer Ende April erscheinenden, wieder einmal exzellenten neuen „Forgiveness Rock Record“ die eigene Zukunftsfähigkeit gleichermaßen selbstbewusst und eindrucksvoll unter Beweis […]

  5. dominik sagt:

    Ich hab mich spontan Verliebt ;)
    Großartiges Album! Aktueller Liebling „Art House Director“

  6. […] gedacht, nicht lieblos geschliffen. Das hinterlässt Eindruck, nicht nur bei solchen Größen wie Broken Social Scene oder Grizzly Bear, für die man in diesen Tagen live eröffnen […]

  7. […] Broken Social Scene – Forgiveness Rock Record Josh Ritter – So Runs The World Away Janelle Monáe – The ArchAndroid Jamie Lidell – Compass Nina Nastasia – Outlaster […]

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