Welch Freude! Die amerikanischen Pub-Rocker Titus Andronicus gehen nach ihrem rustikalen Debüt genau den erhofften Schritt auf ihre Kollegen The Hold Steady zu, plustern ihre Songs gehörig auf und holen sich prominente Sprecher für die historische Umrandung ihres eigenen lyrischen Manifests an Bord. Ganz nebenbei wischen sie sich im Vollrausch den Bierschaum aus dem Mundwinkel und stoßen munter auf das Elend der menschlichen Existenz an. Verehrte Brüder, erhebt die Gläser!

Die besten Freunde sind flüssig, das wusste Jack Kerouac nur allzu gut. Und wenn man sich ihn an der Bar ersinnt, dann gibt es neben Titus Andronicus kaum Bands, die einen passenderen Soundtrack dieser Szene abliefern würden. Ihr Spiel mit Zitaten, Intertextualitäten und der menschlichen Existenz ist ebenso klug wie authentisch und simpel. Sie brauchten nicht einmal ihre Klang-Koordinaten weit verschieben, um ihr Debüt noch einmal zu überbieten. Was nicht heißen soll, dass die dickbrüstigere Produktion samt neuem Instrumentarium und einer gehörigen Portion Größenwahn im Songwriting nicht doch Neuerungen implementiert hat. Die Entwicklung, die die Band mit „The Monitor“ vollzieht, wird schon beim intensiven Opener „A More Perfect Union“ überdeutlich: Es wird turbulenter und ambitionierter musiziert. Gleich im ersten Titel macht sich der bärtige Protagonist auf den Weg, um Reißaus zu nehmen; doch im Gegensatz zum jungen Tom Waits, der auf „Ol‘ 55“ frühmorgens – unendlich verliebt und von Glückshormonen angetrieben – heimkehrt und die Freiheit der Straße aufsaugt, ist Patrick Stickles auf der Flucht. Vor sich selbst, seiner Vergangenheit, dem jahrelang aufgestauten Hass und seinen bedrückenden Ängsten: „Because where I’m going to now, no one can ever hurt me / Where the well of human hatred is shallow and dry […] I’m doing 70 on 17, I’m doing 80 over 84 / And I never let the Merritt Parkway magnetize me no more […] I want to realize too late I never should have left New Jersey”, singt er da. Kehlig und großporig. Gleichzeitig schmettern die Bandkollegen ungehalten und kraftvoll drauf los, rocken, was die Saiten hergeben, nehmen das Tempo heraus, halten den anfangs kurz angedeuteten Trumpf bis zum Schluss zurück: ein unnachahmliches, vor Kraft und jugendlichem Eifer nur so strotzendes Gitarrenriff, das in Red-Bull-aufgepeitschter, euphorisierender Manier auf den Hörer losgelassen wird. Wer jetzt noch steht wird spätestens mit dem Beginn von „Forever Titus Andronicus“ endgültig zu Boden geprügelt – und grölt doch feucht-fröhlich mit: „The enemy is everywhere!“. Und das ist nur einer von zahlreichen Schlachtrufen auf „The Monitor“. Nein, diese Band hat ganz sicher nichts von dem rohen Punkgeist ihres Debüts verloren.

Interessanterweise lassen sich Titus Andronicus auf ihrem zweiten Album aber nicht in eine bestimmte Ecke drängen. Denn auch wenn nahezu jeder Song irgendwann unerwartet und plötzlich in seinen eigenen Geschwindigkeitsrausch verfällt, ist die Struktur der einzelnen Stücke unberechenbar, auch weil die Dauer zwischen zwei und vierzehn Minuten variiert. Von wiederkehrenden Schemata – mal ausgenommen, dass zweiteilige Songs in der Regel tatsächlich zwei völlig verschiedene Songs sein könnten – also keine Spur. Insbesondere auf der zweiten Hälfte („A Pot In Which To Piss“, „To Old Friends And New“) gewinnt zudem das Piano merklich an Präsenz und verpasst den Songs, auch gern mal mit Unterstützung eines irrsinnigen Dudelsack-Solos wie in „The Battle Of Hampton Roads“, ihren goldgelben, schaumig-verrauchten Kneipenrock-Charakter. Wie heißt es doch so schön in „Theme From Cheers“: “I could have been a productive member of society / But these New Jersey cigarettes and all they require have made a fucking junkie out of me / So give me a Guinness, give me a Keystone Light / Give me a kegger on a Friday night / Give me anything but another year in exile“.

Am Ende angelangt muss aber auch Stickles feststellen, dass das Davonlaufen vor der eigenen Vergangenheit nicht von Erfolg gekrönt sein kann („And now I’m heading west on 84 again / And I’m as much of an asshole as I’ve ever been”). Doch egal wie verbittert dieser junge Bursche sein mag, wirklich Sorgen muss man sich um ihn nicht machen, denn spätestens kurz vor der Selbstzerfleischung flüchtet er sich – dieses Mal höchst erfolgreich – in den eigenen Humor („I’ve destroyed everything that wouldn’t make me more like Bruce Springsteen“) oder hat trinkfeste Freunde wie Dan McGee von den großartigen Spider Bags („Waking Up Drunk“, das größte Titus-Cover, reinhören, bitte!), die das in Form eines formidablen Gastauftritts in „Theme From Cheers“ für ihn erledigen: „I’m sorry, Mama, but expect a call from the neighbors tonight / All of my asshole buddies are coming over and they’re feeling a little too all right […] But don’t you worry, I’ll do all the talking when they turn on the flashing lights”. Umhüllt wird dieser primäre, größtenteils autobiografische, Plot von zahlreichen historischen Verweisen auf die Schlacht von Hampton Roads vom 08. und 09. März 1862 zwischen CSS Virginia und USS Monitor, dem ersten Gefecht gepanzerter Kriegsschiffe; die Selbstzerstörungswut unserer Rasse hat ohne Frage zeitlosen Charakter. Wer genau hinhört, erkennt zudem einige alte Bekannte. So übernimmt Craig Finn (The Hold Steady) den Part von Whitman, Double Daggers Nolen Strals die Rolle William Lloyd Garrisons und Cassie Ramone (Vivian Girls) mimt Jefferson Davis.

Aber damit nicht genug, werden auch innerhalb der Texte interessante Anhaltspunkte zu den verehrten Kollegen gestreut. So lautet beispielsweise der erste Part des zweiteiligen Openers „Roadrunner Revisited“ – und grüßt damit recht freundlich Jonathan Richmann und Dylan gleichermaßen. „So now in Rock Ridge pharmacy I will be waiting for my man“ hingegen ist ein respektvoller Wink in Richtung Velvet Underground und auch der „Boss“ („Tramps like us, baby, we were born to die“) nimmt mehrfach passiv an dem ganzen Zinnober teil. Dass „The Monitor“ aber nicht unter der Schwermut ächzen muss, dafür sorgt der whiskeygesättigte Remmidemmi-Teil aus krachenden Gitarren und grölenden Gesängen: “There will be parties, there will be fun!“. Denn trotz allem authentischen Klagen („You never be a virgin kid, you are fucked from the start“) sticht hier die Kerouac’sche Lebensgier die frühe Replacement’sche Angepisstheit aus. So überwiegt am Ende trotz all der Wut, Verzweiflung und Selbstkritik, trotz all des Hasses und der elenden Schwächen, der Depression, der Angst und der mit all dem einhergehenden Flucht in den ständigen Rausch unverkennbar der Gute-Laune-Faktor. Möglich wird dies, weil man in den gut 60 Minuten zumindest eines gelernt hat: „You will always be a loser. But that’s ok!“.

86

Label: XL

Referenzen: The Replacements, The Hold Steady, Bruce Springsteen, Japandroids, Double Dagger, Desaparecidos, McLusky, Vivian Girls,  Spider Bags

Links: MySpace, Homepage

VÖ: 09.03.2010 (US)

8 Kommentare zu “Rezension: Titus Andronicus – The Monitor”

  1. Uli sagt:

    Hätte echt nicht gedacht dass die ihr Debüt so locker übertreffen könnten, aber sie haben es geschafft. Hammerplatte.

  2. Lennart sagt:

    würde ich bier trinken, ich würde diese musik dazu hören.

  3. Pure_Massacre sagt:

    Die Rezension steigert die Vorfreude nochmals. Der Vorgänger war schon so verdammt gut. Die Hörproben dieser Platte sogar noch besser. Wo soll das noch hinführen?!

  4. […] gewisses Übergewicht verbuchen, das die Vertreter der Indie- und Pubrockabteilung mit Hilfe von Titus Andronicus, Los Campesinos! (die nebenbei für unser bisheriges Konzerthighlight gesorgt haben!), Frightened […]

  5. […] auf dem auch der Song Richard II zu finden ist. Mehr zum Album könnt ihr bei den Kollegen von auftouren […]

  6. […] Solch ein bierdurchtränktes Album hat es in den letzten Jahren selten gegeben – abgesehen von „The Monitor“ […]

  7. […] findet jede Expansion ihre Grenzen. Wer glaubte, Titus Andronicus könnten das Mammutalbum „The Monitor“ nicht mehr toppen, darf sich zumindest in dieser Hinsicht bestätigt sehen: Der Nachfolger […]

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