Xiu XiuDear God, I Hate Myself
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Referenzen:
Zola Jesus, Cold Cave, Throbbing Gristle, Blank Dogs, Former Ghosts, Parenthetical Girls, Patrick Wolf, This Song Is a Mess but So Am I
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Autor: |
Philip Fassing |
Angela Seo meidet den Blick in die Kamera. Unvermittelt steckt sie sich den Finger in den Hals, doch der erwartete Brechreiz stellt sich nicht ein. Sie probiert es wieder, tiefer, führt sich die halbe Hand in den Rachen. Tränen steigen ihr in die Augen. Würgen, Husten, ihre schlanken Finger beginnen zu zittern. Flüssiger Mageninhalt rinnt ihr langsam über die rote Unterlippe. Dann folgt der erste heftige Schwall an Erbrochenem. Ganze drei Minuten wiederholt sie diese Tortur, immer wieder. Es dauert einen Moment bis man bemerkt, dass Jamie Stewart die ganze Zeit vergnügt neben ihr rumtänzelt und an einem Stück seiner geliebten Schokolade herum kaut.
Das verstörende Video zu Xiu Xius aktueller Singleauskopplung „Dear God, I Hate Myself“ bringt das Universum des stetig wandelnden Kollektivs um Jamie Stewart perfekt auf den Punkt. Das gleichnamige Album ist eines der direktesten Werke in der Diskografie der Band und übt sich einmal mehr darin, ausgeprägten Selbsthass zur Kunstform zu erheben. Die bizarre wie eklektische Mischung aus demütigem Singer/Songwriter, flackernder Elektronica und jeder Menge Noise-Intermezzi büßt auch auf dem siebten Album kein bisschen Intensität ein. Es wimmelt nur so vor eingestreuten, infantilen Melodie-Miniaturen, die gerne auch mal aus dem Fisher-Price-Keyboard kommen dürfen – natürlich nicht ohne vorher durch den Verzerrer zu laufen, der anscheinend immer auf Anschlag steht.
Allerdings braucht die Platte deutlich mehr Zeit als das Vorgängerwerk um sich voll zu entfalten. Das liegt größtenteils an den überladenen Songstrukturen und chaotischen Arrangements, die oft mehrmals pro Song einen Haken schlagen. Letzteres hat bei Xiu Xiu natürlich eine lange Tradition: Ziehen es die meisten Musiker vor ihre emotionale Gebrechlichkeit in ein pathetisches Gewand zu kleiden und mit allerlei Poesie zu verzieren, löst Stewart die daraus resultierende Distanz zwischen Songwriter und Rezipienten auf subversive Art und Weise auf. Er unterwandert gängige Konventionen des Songwritings, indem er sich der üblichen Mittel bedient, nur um sie mit Furor wieder vor die Wand krachen zu lassen. Das geschieht natürlich nicht aus reinem Selbstzweck, sondern um den Hörer unmittelbar und direkt mit der emotionalen Wucht zu erwischen, die er in seinem posttraumatischen Leiden anscheinend selbst erfahren hat – und das funktioniert immer noch hervorragend.
Der Ansatz des Trios kreist unentwegt und nervös um bildende Kunst, radikalen Nihilismus und herausgekehrtes Dilettantentum und erinnert in seinem selbstzerstörerischen Ausmaß nicht selten an die englische Proto-Industrialband Throbbing Gristle. Gesangstechnisch zeigt sich Stewart nach wie vor auf voller Höhe und repräsentiert in seinem gebrochenen Pathos sowas wie die Morrissey’sche Antithese. Dass auf dem versöhnlichsten Stück des Albums – „This Too Shall Pass Away (For Freddy)“ – ein Seitenhieb auf „Moz“ erfolgt, überrascht dann auch nicht wirklich, beweist aber immerhin Humor.
„Dear God, I Hate Myself“ knüpft nahtlos an das bisherige Schaffen der Band an und beweist, dass die Lücke, die Caralee McElroy hinterlassen hat, mit Angela Seo gut besetzt ist. Die etwas dünne Kohärenz verwehrt jedoch den direkten Vergleich zur Großtat „Fabulous Muscles“ von 2004. Etwas mehr Minimalismus, wie ihn Stewart mit den Former Ghosts hat walten lassen, wäre mit Sicherheit effizienter gewesen. Der wahre Fan lässt sich von diesem kleinen Wehrmutstropfen natürlich nicht beirren und greift zur Special Edition der LP, die auf hundert Stück limitiert ist. Einundzwanzig der Exemplare kommen mit selbstgemachter Schokolade und einem „Xiu Xiu For Life“-Shirt – dessen Schriftzug mit echtem Blut geschrieben wurde. Angela Seos vollgekotztes Oberteil steht dagegen nicht zum Verkauf.
Label: Kill Rock Stars (Cargo)
Referenzen: Zola Jesus, Cold Cave, Throbbing Gristle, Blank Dogs, Former Ghosts, Parenthetical Girls, Patrick Wolf, This Song Is a Mess but So Am I
VÖ: 26.02.2010
Fantastisches, dringliches, authentisches, ehrliches, niederschmetterndes Album. Nur, wer gute Laune will, sollte es nicht kaufen.
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