Das Musikorakel: Bands für 2010

„Julian Peretta. Julian who?“ musste jüngst MTV konstatieren, denn ihr Tipp auf den ultimativen medialen Durchbruch dieses Herrn im Jahr 2009 erwies sich rückblickend als gänzlich falsch. Allerdings erscheint sein Debüt auch erst im nächsten Frühjahr, so dass leichte Hoffnungen auf Erfolg verbleiben. Eines macht aber dieses Beispiel klar: Musikorakel zu spielen macht zwar ungemein Spaß, jedoch ist es die Variable X, die den Prognosen oft einen Strich durch die Rechnung macht. Denn trotz allen Antizipierens der Szene und der vermutbaren Qualität von Bands spielt das Glück eine immense Rolle, welche Band tatsächlich kurz- oder langfristig Erfolg hat.

roxDass nicht einmal der immer noch evident bedeutende Label-Faktor stetig greift, beweisen Künstler wie Kid Cudi, White Lies oder Little Boots, die trotz Major Company im Rücken außerhalb Englands kaum Beachtung fanden.  Zumindest in der Relation zur Marktkraft ihrer Labels, die immer noch Radioplaylisten und Magazinseiten dominieren. Regionale Unterschiede sind also ebenso zu bedenken wie die mögliche Dominanz von Hypes und deren Abfärbeeffekte. Durch die Diversifizierung der Szene wird es jedoch immer schwieriger mit seinen Vorhersagen Treffer zu landen. Die BBC hat es wie jedes Jahr versucht: Dutzende Medienfachleute und Musikkritiker wurden befragt und eine durchaus ansehnliche Liste erstellt, die sich in der Vergangenheit oftmals als zutreffend erwiesen hat. Für die Charts stehen dort Daisy Dares You, Marina & The Diamonds, Rox und Ellie Goulding bereit – die von MTV auch die „10 for 10“-Liste gesetzten Owl City und Ke$ha sind sowieso bereits dick in den Top10 vertreten. Und auch solch charmanten 80s-Jungs wie Everything Everything können als Nachhall zur großen Revivalwelle noch Chancen eingeräumt werden. Pop wird 2010 weiterhin die gewaltigste Rolle spielen.

bouletNoch schwieriger ist es aber abzusehen, was sich im alternativen Bereich tun wird: Dubstep wird sicherlich gänzlich die Brücke zum House schlagen – Joy Orbison nach seinem Überhit „Hyph Mngo“, Mount Kimbie oder Floating Points sind längst keine Geheimtipps mehr.  Ein Produzent wie Screendeath jedoch schon. Und es wird sicherlich auch Zeit für neue starke Frauen im Elektronik-Bereich. Aber können Emika (Ninja Tune) oder Cooly G (Hyperdub) die Erwartungen erfüllen? Und was ist mit so hoffnungsvollen Produzenten wie Emalkay, Joker oder Jakwob, die Dubstep etwas zugänglicher angehen?

Pitchfork setzt fast ausschließlich auf zwei Strömungen: Noch mehr Surf/Gitarrenpop (Drums, Free Energy – sollte sich der frische boyish Gute-Laune-Pop wirklich großflächig durchsetzen, erwartet uns sicherlich auch eine Renaissance des Schwedenpops) und noch viel mehr Wald-Indie, der verschwurbelt und leicht psychedelisch daherkommt. Air Waves, Washed Out, Best Coast oder Pearl Harbor sind genannt, scheinen aber zu verwechselbar, um wirklich punkten zu können. Jedoch: Es wird sicherlich musikalisch nicht unfreeenergybedingt einfacher, soviel lässt sich sagen. Nachdem Gang Gang Dance, TV On The Radio und Animal Collective Wegbereiter für anspruchsvollere Musik waren, die sich jeglichen Grenzen verweigert, erwartet uns 2010 ein ganzer Schwall an recht komplexer Musik, die sich nicht mit Oberflächlichkeiten aufhält. Klar ist aber, diese Klänge sind immer noch zu abseitig, um nebst als Masse auch singulär Ruhm zu ernten – da macht auch die noch blutjunge Nika Roza Danilova keine Ausnahme, die nach Zola Jesus bereits mit Nika & Rory ein neues Betätigungsfeld aufgetan hat. Da haben es Bands wie Air France oder jj (ebenso neu auf Secretly Canadian wie Here We Go Magic), The Hundred In The Hands, Future Islands, Theophilus London oder auch der freundliche Jonathan Boulet sicherlich leichter. Auch die Globopop-Bands wie Electric Wire Hustle, Javelin oder Nice Nice sowie flotte Disko-Projekte wie Gold Panda, CFCF, Gucci Vump oder Delphic könnten für so manch gute Single sorgen. Im Rockbereich fokussiert sich noch momentan viel auf Surfer Blood und die extrem zerschossenen Sleigh Bells. Dennoch scheint der Gitarrenbereich wie im Jahr 2009 nur eine untergeordnete Rolle zu spielen, besonders abseits der Neo-Noise-Bands.

niceniceAuch immer ein guter Index: Die Tastemaker-Labels wie Warp, die jüngst erst eine Labelkompilation namens „2010“ veröffentlichten (hier vorhören). Darauf befinden sich viele Bekannte, aber auch die Dub/Elektro-Hoffnung Rustie und viele Projekte die passend zum Rundlederjahr 2010 die Vuvuzela schwingen: De Tropix und Africa Hi-Tech. Addieren wir noch DJ Mujava und diverse Township Funker hinzu, so gewinnt das musikalische Bild rund um die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft Form und Farbe.  Ob dieser Klang aber Bestand hat, bleibt abzuwarten. Langfristiger planen die Labels Parlophone mit Tinie Tempah, Def Jux mit M.I.A.-Zögling RyeRye, XL mit Giggs oder Drake. Dennoch scheint auch 2010 nicht unbedingt das  Jahr zu werden, in dem im HipHop-Bereich neue Revolutionen ausgelöst werden.

Aber wer weiß schon jetzt, wie sich die Szenen entwickeln, welche Künstler ganz oben auf den Prioritätslisten der Labels landen werden – und wie es um deren musikalische Substanz abseits der wenigen Single-Vorboten tatsächlich bestmujavaellt ist? Enttäuschungen sind ebenso vorprogrammiert wie unverhoffte Glücksfälle. Schließlich ist das Musikgeschäft immer schon ein Wagnis gewesen, das zwar jederzeit drauf und dran ist, Nährboden für kommerzielle Erfolgsgeschichten zu bereiten, aber letztlich doch von der musikalischen Beständigkeit und vom Gusto der Konsumenten abhängig ist. Entsprechend wird 2010 auch nicht anders als jedes Jahr: Eine Menge überzeugender und eigenständiger Künstler werden debütieren, viele werden eine weitere Stufe ihrer Bekanntheit erreichen (Vampire Weekend, MGMT, M.I.A., Flying Lotus, Hot Chip, Pantha Du Prince, Yeasayer, Beach House, Frightened Rabbit) und von einigen werden wir wider Erwarten nur mäßige Werke hören. Immer dabei: Das Orakel, dass dies alles hat bereits kommen sehen. Oder eben auch nicht.

9 Kommentare zu “Das Musikorakel: Bands für 2010”

  1. Tom sagt:

    Markus, du spinnst ja. Genau diesen Artikel wollte ich quasi selbst aus dem Ärmel schütteln für mein Blog und dann taucht das hier im Feedreader auf :)

  2. Pascal sagt:

    Warp wird im Februar erstmal mit Lonelady überraschen. Das erste Hören von „Immaterial“ klingt mal so gar nicht warpig, erinnert sogar eher an Alanis, das ganze Album ist dafür ziemlich prächtig geworden!

    http://www.myspace.com/hiholonelady

  3. Matthias sagt:

    Da lasse ich mich dann auch mal überraschen. Schöner Beitrag von dir.

  4. […] Monaten wieder durch eine nicht mehr nachzuverfolgende Anzahl von Platten gekämpft – das Silvester-Musikorakel dabei stets im Hinterkopf. Während vor allem Vampire Weekend, Surfer Blood, The Drums oder The […]

  5. […] beispielsweise für Nika Roza Danilova, mal ganz abgesehen von den Nebenprojekten Former Ghosts, Nika + Rory etc., als Zola Jesus neben ihrem Debütalbum und diversen Einzelstücken zwei weitere Mittel- bis […]

  6. […] recht frischen Feld des Synth-Pop zahlreiche erfreuliche Blüten. Nachdem Future Islands bereits vor einem halben Jahr als eine der interessanten Bands für 2010 gehandelt wurden, bestätigt "In Evening Air" […]

  7. […] Alters, den kurze Zeit später aber sichtlich die Limboeinlagen der britischen Soulsängerin Rox in gelben Pants versöhnten, die einen urban-bunten Tupfer im dieses Jahr eindeutig indielastigen […]

  8. […] Parallelen zwischen „Musikorakel spielen“ und „an der Börse zocken“ sind verblüffend. Beide Male wettet man auf die Zukunft, […]

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