AUFTOUREN: 2009 - Geheime Beute (Teil 1)

Das Herz blutet und es wird verzweifelt gekämpft, wenn AUFTOUREN-Redakteure die Jahrescharts erstellen. Gerade bei einer Konsensliste scheiden viele sehr gute Alben dahin, obwohl es das Hardcore-Album von XYZ aus der mongolischen Hochebene oder das balearisch flickernde Tropicana-Werk von YZX sicher auch verdient hätte, in unseren Top 50 wenigstens auf Platz 49 geführt zu werden.

Denn trotz eines durchschnittlichen Jahrespensums von 992 ausführlich gehörten Alben pro Redakteur existiert immer noch eine große Anzahl von Werken, die eben nicht schnittmengentauglich waren. Daher gibt es nun mit der „Geheimen Beute“ eine lose Zusammenstellung 31 tendenziell unbekannterer Alben, die es nicht in unsere Top 50 geschafft haben. Mit der von AUFTOUREN bekannten großen stilistischen Vielfalt und dem Versprechen, dass jedes einzelne Werk für sich weit überdurchschnittlich ist.


clockworkALIF TREE – CLOCKWORK [Compost]

Propagandhi oder Digitalism zum Katerfrühstück am Sonntagmorgen? Da ist der Hörsturz vorprogrammiert. Besser: Gutmütige, leichte, frische und unaufdringliche Musik, die auf dem Grad zur seichten Unterhaltung gerade noch die richtige Seite erwischt. Alif Tree aus Frankreich schafft mit seinem Album „Clockwork“ Abhilfe. Immer leicht jazzy, nur ein bisschen elektronisch und kaum bluesig ist das hier Wohlklang für die Ohren. Easy Listening sagte man früher dazu. Selten genug, dass dabei Anflüge von Langeweile und Redundanz mit freundlicher Bestimmtheit abgewehrt werden. (Markus Wiludda)

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greinerSVARTE GREINER – KAPPE [Type]

Man weiß nicht so genau, aus welchen Quellen der Norweger Erik Skodvin aka Svarte Greiner seine rauschenden und dröhnenden Geräusche extrahiert. Aus elektrischen Gitarren, aus offenen Hinterköpfen seines Laptops oder von U-Bootfahrten im Marianengraben? Alles verharrt mysteriös und überaus gespenstisch wie ein verschlingender Alptraum, der mit jedem Druck auf die Play-Taste von Neuem beginnt und einem genüsslich die Luft abdreht. In diesem Album steckt mehr Wahrheit und mehr Dämonisches als viele werden ertragen können. Es ist Musik aus dem Inneren der Unzufriedenheit. Ein Grollen, ein Todeshauchen in erbärmlich aussichtslosem Schwarz. (Markus Wiludda)

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HjaltalínHJALTALÍN – SLEEPDRUNK SEASONS [Haldern Pop]

Irgendwie wieder mal typisch isländisch ist das Debütalbum von Hjaltalín geworden. Zwar driften diese nie, wie viele ihrer Kollegen, ins allzu Sphärische und Klischeehafte ab, geben sich auf „Sleepdrunk Seasons“ aber dennoch so himmelhochjauchzend, urromantisch und einladend wie ein Nachmittag auf einer frühlingshaften Blumenwiese. Gutgelaunt wird sich hier zu allerlei klassischem Instrumentarium an den Händen gefasst und mit den Vögeln, Schmetterlingen und Bienen um die große Linde getanzt. Das Ganze klingt manchmal übereuphorisiert, äußerst reich an Details und doch immer eingängig nach nahezu schwerelos leichtem Pop, als hätten die Dirty Projectors in diesem Jahr einen kleinen, bodenständigeren Bruder im Geiste gehabt. (Bastian Heider)

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Eat_SkullEAT SKULL – WILD AND INSIDE [Siltbreeze]

Dass Eat Skull ihr zweites Album „Stick To The Formula“ ausrufend beginnen, ist mehr ein Anzeichen für den lockeren Humor der Trashpopper als ein kreatives Motto. Denn auch wenn auf „Wild And Inside“ blankpolierte Produktion wieder gemieden wird, zwischen der betörend warmen Melancholie von „Oregon Dreaming“, dem enthusiastisch voranstürmenden „Heaven’s Stranger“, dem echolastigen Instrumental „Surfing The Stairs“ und dem Lagerfeuer-folkigen Singalong „Who’s In Control“ versprühen ihre Songs Ideenvielfalt und sind vor allem hochmelodisch. Ein Erfolgsrezept für das es keine Anleitung gibt. (Uli Eulenbruch)

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FanfarloFANFARLO – RESERVOIR [Canvasback]

Hierzulande beinahe vollkommen unbeachtet veröffentlichten Fanfarlo mit „Reservoir“ eigenmächtig ein Debüt voller großer, melodieseliger Momente, ein Album, auf dem die Streicher gerne einmal einen Schlenker mehr als notwendig machen und die Stimme angenehm zitternd über einen schimmernden und schwingenden Regenbogen tänzelt bis melancholisch stolziert. Und was steht an dessen Ende? Kein Topf voll Gold, aber immerhin sind sie mittlerweile auf Steve Ralbovskys Label Canvasback Music gelandet, der in seiner Tätigkeit als A&R schon The Strokes, Kings of Leon und My Morning Jacket für die Musikindustrie entdeckte. Es könnte also schlimmer um die Band aus London stehen. (Lennart Thiem)

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Kyle_LandstraKYLE LANDSTRA – MOONRISE [Wise Owl]

Das Bild ist schon während des Openers schnell gezeichnet: Kyle Landstra muss zu der Sorte Musikern gehören, die sich jede freie Minute in ihrem Keller einschließen, tüfteln was das Zeug hält und am Ende des Prozesses eben jene dröhnenden und homogenen Collagen erzeugt haben werden. Michigan’s Minister of Drone spinnt um „Moonrise“ einen übergroßen Kokon mit Faden aus schimmernder Watte, bestens dazu geeignet, das Naturschauspiel in Töne zu fassen und so permanent greifbar zu machen. Ein beklemmendes Album, das trotz versöhnlicher Untertöne der Apokalypse bedrohlich nahe kommt. (Felix Lammert-Siepmann)

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The-Ghost-Of-A-ThousandTHE GHOST OF A THOUSAND – NEW HOPES, NEW DEMONSTRATIONS [Epitaph]

Unaufhaltsam kommen sie auf dich zu. An Flucht ist nicht zu denken. Die Geröllbrocken winden sich ins Mark – erschütternd, bebend, brachial. Die Gitarren sind mit maschineller Präzision ausgestattet und dreckig verzerrt, die Hardcore-Riffs die bestimmende Macht im Koordinatensystem von Wahnsinn, Manie und Übergeschnapptheit. Wobei die Herren von Ghost Of A Thousand im wahren Leben bestimmt nette Kerle sind und nur ab und zu ihr überschäumendes Temperament mit Neigung zur Aggressivität ausleben. Beste Platte auf Epitaph seit langer Zeit. (Markus Wiludda)

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anni-rossiANNI ROSSI – ROCKWELL [4AD / Beggars]

Was der Newsom ihre Harfe, ist Anni Rossi ihre Bratsche. Mit dieser weiß die 23 Jahre junge Dame nämlich allerhand Dinge anzustellen, die sie ganz sicher nicht von ihrem Musiklehrer gelernt haben dürfte. Unter den Fittichen des gewohnt minimalistischen Steve Albini kratzt, zupft und stolpert sie durch ein Debütalbum, das neben der wohl schönsten Ace Of Base-Coverversion ever auch noch die eine oder andere Songperle mehr zu bieten hat. Ob nun der herrlich leiernde Opener „Machine“ oder das wunderbare „Wheelpusher“, „Rockwell“ ist zart und spröde zugleich und sticht so ganz deutlich aus gängigen Folk-Klischees heraus. Well done, Miss Rossi. (Bastian Heider)

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Shiina_RingoSHIINA RINGO – SANMON GOSSIP [EMI Japan]

Mal ehrlich, bei allem Gerede um neue musikalische Offenheit durch das Internet sind unsere Hörgewohnheiten immer noch sehr regional beschränkt, da kann der gelegentliche Afropop-Hype nur einen täuschenden Schleier drüber legen. So ist auch Shiina Ringo, mit der Theatralik einer Lady GaGa, Björks Experimentierfreude und der konzeptuellen Ambition von Kate Bush wahrscheinlich der faszinierendste weibliche Popstar des Jahrzehnts, bedauerlicherweise über die Grenzen Ostasiens hinaus kaum bekannt. Dieses Jahr kehrte sie, nach drei Alben mit einer von ihr gegründeten Rockband, als Solokünstlerin zurück und servierte auf „Sanmon Gossip“ eine eklektisch-elegante Achterbahnfahrt durch R’n’B, Orchestralpop, Jazz, Speedfunk und Cyberbeats die bei jeder anderen wohl im Chaos geendet wäre. (Uli Eulenbruch)

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nosajNOSAJ THING – DRIFT [Alpha Pub]

Leftfield-HipHop – was schon gleich zu Beginn dermaßen konstruiert klingt, bewahrheitet sich auch in den verrenkten Takten des Produzenten aus Kalifornien. Ähnlich wie bei seinem großen Vorbild Flying Lotus sind seine Tracks eher Skizzen als Songs, verbinden Aggressivität und Räumlichkeit, zerbersten und löten zusammen, was im Jahre 2009 von Dubstep, HipHop, Glitch und Co. eben noch übrig ist. Man hat das Gefühl, dass diese störrischen und düsteren Folien der Soundtrack der Zukunft sein könnten und hat just in jenem Moment Angst, dass es tatsächlich so eintreten wird. (Markus Wiludda)

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Alcoholic_Faith_MissionTHE ALCOHOLIC FAITH MISSION – 421 WYTHE AVENUE [Ponyrec]

Den manchmal etwas derben Humor, den die Dänen von Alcoholic Faith Mission bereits in ihrem Namen offenbaren, würde man ihnen anhand ihrer Musik gar nicht zutrauen. Diese ist nämlich das krasse Gegenteil von lautmalerisch, verträumt und zerbrechlich. In einem einsamen Appartement in der namensgebenden New Yorker „421 Wythe Avenue“ entstand ein Album aus sanftem, ungemein sympathischem Indiepop, das in seinem Wechsel aus Frauen- und Männergesang oftmals an die ruhigsten Momente der Broken Social Scene erinnert. Originalitätspreise werden Alcoholic Faith Mission damit vielleicht nicht gewinnen, schöner verpackt als hier hat man seine Stundendosis an Eskapismus in diesem Jahr aber auch so gut wie nie bekommen. (Bastian Heider)

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MeanderthalsMEANDERTHALS – DESIRE LINES [Smalltown Supersound)

Nach jahrelanger Bekanntschaft rafften sich die Londoner Idjut Boys endlich nach Norwegen ins Studio von Rune Lindbæk auf, um einen gemeinsamen Sommertraum aufzunehmen. „Kunst Or Ars“ setzt direkt zu Beginn die stilistische Blaupause, hier wirken das Akustikgitarrenspiel, verträumte Slides und ambient kreisende Synths über sanft dahingleitenden Rhythmen noch sorglos, auch wenn später die Percussions an Anzahl und die Atmosphäre an Dichte zunehmen, wird der metikulös eingefangenen Sänfte dieses Sounds kein Abbruch getan. Wo Meanderthals‘ instrumentale Verzahnungen hinführen ist irrelevant, denn wie schon der Projektname andeutet: Der Weg ist das Ziel, Mäandern die Art der Fortbewegung. (Uli Eulenbruch)

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sightbelow2THE SIGHT BELOW – GLIDER [Ghostly]

Und ewig Puls. Geisterhaft treibt nur ein einziger Beat die Songs an. Repetitiv und unbarmherzig. Immerwährend, einem Mantra gleichend. Dazu fließen atmosphärische Fetzen durch den Raum, die bisweilen eine seelenvolle Ruhe erzeugen, wie sie kontradiktorischer nicht sein könnte. Konkret und unbestimmt zugleich. Selbst geisterhafte Flächen bieten kaum Halt. So übersichtlich die Funktionsweise als solche ist, so packend gerät das Ergebnis. Als Begleitmusik zu Kunstausstellungen, als Soundtrack für Filme in opaker Optik und mit literweise Regen aus Gießkannen wäre „Glider“ eine hervorragende Wahl. Für den gemeinen Hörer eröffnet das schier schwerelose Album das Wagnis des Vagen. (Markus Wiludda)

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citycenterCITY CENTER – CITY CENTER [Type]

City Center jagen auf ihrem bereits im Mai über Type erschienenen und selbstbetitelten Debüt, wie so viele Outsider-Pop-Barden dieses Jahr, dem großen bunten Drachen von Animal Collective nach – vergeblich. Also entwerfen sie nach einigen Minuten des Stocherns im Dunkeln letztlich ihren eigenen, und lassen die Leine mal so richtig lang. Lose Loops und freie Stücke von trockenen Folk-Gitarren machen eine schwer festzusetzende Atmosphäre aus. City Center erzeugen Raum. Darin bewegt sich alles ohne Gleichgewicht, ohne Schwerkraft, das Ziel ist offen. Die relative Abkehr von diesem Konzept in den letzten drei, erfrischend offen mit Eingängigerem flirtenden Titeln, ist vielleicht die endgültige Empfehlung für Höheres. (Sven Riehle)

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Mayer_HawthorneMAYER HAWTHORNE – A STRANGE ARRANGEMENT [Stones Throw]

Es ist eigentlich ziemlich verwunderlich: War 2008 noch das Jahr der Soul-Frauen, blieb den männlichen Gegenstücken auch 2009 jeglicher kommerzielle Erfolg versagt. Dabei hätte das AUFTOUREN-Team durchaus nichts dagegen gehabt, wenn dieser schicke Amerikaner auch in der Masse bekannter geworden wäre. Schließlich ist sein nostalgischer Soulpop-Entwurf ungleich charmanter als, sagen wir, Xavier Naidoo. Hier kann man sich genüsslich zurücklehnen, während im Kopf imaginäre Männer mit langen Koteletten und funky Pornobrillen mit Ladies in futuristisch anmutenden Synthetikanzügen über den Tanzflur shakern. Schnell mal mit Verve den Vintage-Teppich in den Eingang rollen. (Markus Wiludda)

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5 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2009 – Geheime Beute (Teil 1)”

  1. […] von Listen, man will schließlich jedem Künstler irgendwie gerecht werden. Unsere Top 50, die Geheime Beute, die besten Musikvideos des letzten Quartals, die letzte diesjährige Tape auf Touren-Ausgabe und […]

  2. […] ihrem letztjährigen Überraschungsalbum “421 Wythe Avenue” immerhin bis in die “Geheime Beute” der Jahrescharts und auch der vor kurzem erschienene Nachfolger “Let This Be The Last […]

  3. […] sein muss, haben besonders in den letzten Jahre immer wieder Künstler bewiesen: Jamie Lidell, Mayer Hawthorne, Amy Winehouse oder die zuletzt erfolgreich auch in den deutschen Albumcharts vertretene Sharon […]

  4. […] Rede ist von Fanfarlo und ihrem zweiten Album „Rooms Filled With Light“. Bei „Reservoir“ wunderte ich mich noch über die andauernden Vergleiche mit Arcade Fire, mutete mir doch der […]

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