AUFTOUREN: 2009 - Das Jahr in Tönen (Top 10)

Der Dezember hat begonnen, die Temperaturen sinken, die zweite Kerze brennt stolz vor sich hin. Klare Zeichen, das Jahresende naht. Freudestrahlend werfen wir einen Blick auf die letzten elf Monate, notieren akribisch jede Platte, die wir in die Finger bekommen haben und nehmen sie abermals genauestens unter die Lupe. Haben wir vielleicht was übersehen? Wie steht es um die gefürchtete Halbwertszeit?

Nach einem zwei Wochen andauernden, harten „Kampf“ hat sich die komplette AUFTOUREN-Redaktion nun einigen können und präsentiert ihre 50 Favoriten. Hier gelangt ihr zu den Plätzen 50-31, Rang 30-11 findet ihr an dieser Stelle! In den nächsten Tagen folgen zur endgültigen Abrundung noch ein paar ausgewählte „Geheimtipps“ und die Einzellisten jedes Redakteurs. Es sei an dieser Stelle kurz angemerkt, dass wir auf das Einbeziehen von Singles und EPs verzichtet haben und ausschließlich Longplayer mit in die Auswahl aufgenommen wurden. Wir würden uns selbstverständlich sehr freuen, das ein oder andere Thema mit euch ausdiskutieren zu können, davon lebt so ein Jahresrückblick ja bekanntlich in erster Linie!


Grizzly Bear

„Veckatimest“

[2009; Warp]

Rezension, MySpace, Konzertbericht

Wer hätte gedacht, dass sich mit „Two Weeks“ ein solcher Hit auf dem dritten Album des Quartetts finden lassen würde? Niemand, aber nicht darin liegt das Besondere, richtige Hits sind immer Songs, die überraschen. Das Bemerkenswerte ist, dass aus den vier vermeintlichen Waldschraten mit „Veckatimest“ eine Konsensband wurde, die trotz beibehaltenen Eigensinnigkeiten im Sound einen Weg fand, Stücke zu schreiben, deren Arrangements wenig mit dem zu tun haben, was sie letztendlich sind: Popmusik der besten Art, etwas, das in der Lage ist, Hörgewohnheiten von Menschen zu verändern, die nicht einmal wussten, dass sie welche haben. (Lennart Thiem)

The XX

„XX“

[2009; XL | Beggars | Indigo]

Rezension, MySpace

Während die Tagespresse irgendwelche Nichtigkeiten zu Sensatiönchen aufblies, erging es der Musikwelt im Sommerloch dieses Jahres nicht anders. Auf einmal waren vier Jungspunde aus London das nächste heiße Ding – trotz ihrer gänzlich zurückhaltenden Musik. Gleich zehn Tonnen Referenzlast zwischen The Smiths, Joy Division und den Young Marble Giants liegen auf ihren Schultern und dennoch schaffen sie es, ungemein unaufgeregt und locker zu agieren. Dass sie dabei ein ums andere Mal etwas unbeteiligt klingen, ist Kalkül. Nichts soll auffallen, alles wird minimiert und reduziert, bis nur noch ein hoffnungsvolles Schweben durch die Nacht gleitet und die intime Melancholie auffängt, die hier alles mit feinem Garn umspinnt. Ein ganz fabelhaftes Debüt! (Markus Wiludda)

Speech Debelle

„Speech Therapy“

[2009; Big Dada]

Rezension, MySpace

Es gibt wenige Musikpreise, denen man wirkliche Relevanz zugestehen kann. Der deutsche Echo mit seinen Lobhudeleien auf die kommerziell erfolgreichsten Künstler ist das krasse Negativbeispiel, der Mercury Music Prize eine eher positive Ausnahme. Schließlich wird ohne Umstände das jeweils beste britische Album gekürt. Oft nah am Hype, aber durchaus mit überraschenden Ausnahmen wie Dizzee Rascal, Elbow oder in diesem Jahr Speech Debelle. AUFTOUREN hat es natürlich schon vorher kommen sehen, denn dieses Album ist eine herrlich unkomplizierte Melange aus Soul und HipHop, hat Herz und Sprachfehler, will erst gar nicht perfekt sein und folgt mit analogem Instrumentarium stilecht und mit Güte eingespielt der herausragenden Single „The Key“. (Markus Wiludda)

St. Vincent

„Actor“

[2009; 4AD | Beggars | Indigo]

Rezension, MySpace

Ein beeindruckendes, herrlich verschrobenes Album. Immer wieder findet sich melodische Schönheit in leicht krude Sounds verpackt, steht Kammerpop neben Fuzz-Eskapaden, werden Soundwände von einem streckenweise regelrecht groovendem Schlagzeug durch streng-lichte Räume geschoben. Hier findet sich keine verruchte, verspielte Varieté-Doppeldeutigkeit, sondern ein wirkliches Nebeneinander, eine verquere Perfektion, die alles durchdringt und deswegen niemals erzwungen wirkt. Ein Meisterwerk. (Lennart Thiem)

Antony & The Johnsons

„The Crying Light“

[2009; Rough Trade | Indigo]

Rezension, MySpace

The Crying Light klingt, als hätte es niemals nicht existiert, es lässt nicht sofort aufhorchen. Dass man dennoch vollkommen in Beschlag genommen wird, liegt nicht an catchy Hooklines oder Slogans, singt Anthony in „Another World“, dem zentralen Stück des Albums, „I need another world / This one’s nearly gone“, dann klingt darin nicht nur der Schmerz über all das, was verloren gehen wird, sondern es berührt mit seiner Folgerichtigkeit. Antonys Stimme erzählt bei aller Einzigartigkeit keine persönlichen Geschichten, und dennoch weiß man, dass dieser Mensch seine eigene Welt braucht, und, was noch viel wichtiger ist, sie auch erschaffen kann und dies in seiner Musik bereits getan hat. Vielen Dank dafür! (Lennart Thiem)

Fever Ray

„Fever Ray“

[2009; Cooperative| Universal]

Rezension, MySpace, Musikvideos Januar – März

Im Schattenreich der Karin Dreijer Andersson werden die Lichter ausgeblasen. Es regiert gespenstische Düsternis, die sich beklemmend mit ihren eiskalten Fingern um den Hals schlingt. Nur ein sturer Puls zeugt von Leben. Dann erklingt die Stimme der The Knife-Frontfrau, wie gewohnt so verzerrt und verlangsamt, dass die Vermännlichung einer Entmenschlichung gleichkommt. Und diese entstellte Fratze ist das Einzige, was hier grinst. Geisterhaft und bedrohlich ist die Grundstimmung, selbst die Texte sind in triefendes Schwarz getüncht. Live gibt es dazu Schamanenkostüme und grüne Laserstrahlen, die Videos runden diese Inszenierung von Musik brillant ab. Denn was Fever Ray ausmacht, ist im Baukasten des Gegenwartspop so bisher nicht zu finden. (Markus Wiludda)

HEALTH

„Get Color“

[2009; Lovepump United | City Slang | Universal]

Rezension, MySpace

HEALTH konvertierten mit ihrem zweiten Album die musikalische Negation in das Format des Post-Punks und schlugen mit ihrem Zwitter aus verhalltem Gesang und infernalischen Lärm ein wie eine Bombe. Wer die Truppe aus Los Angeles live gesehen hat, wird dies sogar wörtlich nehmen, bekam man es angesichts des Wahnsinns auf der Bühne doch schon fast mit der Angst zu tun. Mit „Get Color“ holten sie den Noise aus seiner subkulturellen Nische und platzierten ihn wieder sichtbar auf der musikalischen Landkarte. Damit setzten sie dieses Jahr deutliche Akzente und verliehen einem etwas stagnierenden Genre neue Impulse. (Philip Fassing)

Sunset Rubdown

„Dragonslayer“

[2009; JagJaguwar | Cargo]

Rezension, Homepage, Konzertbericht

Das vierte Werk von Sunset Rubdown droht anfangs missverstanden zu werden, versteckt sich seine Komplexität doch tückisch hinter einer simpel anmutenden Fassade. Wer den Kanadiern berechenbaren Pop mit Refrain-Strophe-Refrain-Schema unterstellen will, hat nicht richtig hingehört und verpasst einen der ganz dicken Brocken des Jahres! Camillas zunehmend an Bedeutung gewinnender Zweitgesang, die geschickt platzierten Prog-Elemente, Spencers wie gewohnt immer wieder sich selbst überholen wollende Stimme, all das hat natürlich System und geschieht unter strikter Aufsicht. Den wahren Trumpf spielt „Dragonslayer“ jedoch erst nach längerer Bekanntschaft aus, genau dann, wenn wie in „Black Swan“, „Idiot Heart“ oder dem Herzstück „You Go On Ahead (Trumpet Trumpet II)“ die stetig ansteigende Intensität, dieses aufkommende Kribbeln, physisch spürbar wird. (Pascal Weiß)

Dirty Projectors

„Bitte Orca“

[2009; Domino]

Rezension, MySpace

Schlaumeierpop, der einmal über das übliche Zitatgedresche hinausgeht. Die Dirty Projectors denken und vor allem werkeln Weird Folk, traditionelle afrikanische Musik und modernen R’n’B zu einem virtuos hakenschlagenden Kaleidoskop von einem Album zusammen und treiben damit die verschiedensten Bewegungen im amerikanischen Indie auf die Spitze und darüber hinaus. Glockenhelle Harmoniegesänge treffen hier auf halsbrecherisch wie exotische Zupfinstrumente gespielte Gitarren, ohne dabei jemals in dumpfer Leistungsschau zu enden. „Bitte Orca“ führt gängige Pop-Schemata an der Nase herum, spielt dem Hörer das eine oder andere Mal Knoten in die Synapsen und bleibt dabei doch immer zugänglich und voller Schönheit. Hirn und Herz werden hier aufs Wunderbarste gleichermaßen bedient. (Bastian Heider)

Animal Collective

„Merriweather Post Pavilion“

[2009; Domino]

Rezension, MySpace

“Met a dancer / who was high in a field / from her movement / caught my breath on my way home / couldn’t stop that spinning force / I felt in me / everything around seemed to giggle glee / she walked up with a flower and I cared.” Der Anfang eines unvergessenen Trips. Von nun an herrscht emotionaler Ausnahmezustand. Es sind Momente, in denen man ganz automatisch ins Bücherregal greift, Joe Boyds „White Bicycles“ aufschlägt und sich auf imaginäre Reise in den bunten Hochsommer 1967 begibt, ins UFO, Tomorrow spielen gerade. Gedanken vermischen sich. Die eigene Jugend ist plötzlich wieder greifbar, der Dampf von sonnenbetanktem Teer schwebt in der Luft, vermengt sich mit dem Geruch der Liebsten, hitzeausstrahlende Häuserwände sind Zeugen innigster Verbundenheit – diese Umarmung ist für immer. „No one should call you a dreamer.” (Pascal Weiß)

9 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2009 – Das Jahr in Tönen (Top 10)”

  1. Jakob sagt:

    geile auswahl, auch wenn ich sehe das ich wohl vieles zu oberflächlich gehört haben muss und ich gerne nochmal näher mit den alben beschäftige. dabei denke ich an sunset rubdown und health..

    ich wundere mich nur darüber, dass es neon indian nicht in eure gesamte liste geschafft hat. kennt ihr den überhaupt? wie ich finde einer DER überraschungen des jahres 2009.

    mit merriweather post p. an erster stelle bin ich einverstanden!!!!

    an dieser stelle möchte ich nochmal ein dankeschön sagen. für die ganze mühe die ihr euch hier macht. die auf intellektuell hohem niveau geschriebenen reviews. das neue design. alles ohne werbung. und und und

    DANKE,macht nur weiter so

    grüße jakob

  2. Pascal Weiß sagt:

    Jakob, wir haben uns, das kann ich wohl im Namen aller Redakteure sagen, sehr über Dein Lob gefreut, vielen Dank! Und solange solch nette Kommentare kommen, sollte auch für die Zukunft genug Ansporn vorhanden sein;)

    Ich persönlich fand die Neon Indian ok, aber mehr auch nicht. Mag auch daran gelegen haben können, dass ich des Genres ein wenig überdrüssig war. Höre aber bei Gelegenheit noch mal rein;)

  3. Nieöls sagt:

    Meine Top 3 schaut genau gleich aus, in dem Sinne: tolle Liste!!

  4. Nieöls sagt:

    Blödsinn, meine Top 4 ;D

  5. Pascal Weiß sagt:

    Spencer Krug, der Kopf von Sunset Rubdown, ist ab sofort auch solo unterwegs. Die neue, im Januar als Vinyl erscheinende EP gibt es ab sofort hier als Download:

    https://www.scdistribution.com/moonface/

    Den Preis könnt ihr selbst bestimmen…

  6. […] bei den Grammys noch bei einer anderen wichtigen Musikpreisverleihung etwas ändern. Einzig der Mercury Music Prize sticht zumindest in der Auswahl der Nominierten positiv hervor. Was schmerzlich vermisst wird, ist […]

  7. […] The Bewitched Hands On Top Of Our Heads und Nite Jewel. Zum Abschluss gibt es dann den großartigen Antony, dieses Mal in Zusammenarbeit mit Oneohtrix Point Never, der es erst kürzlich in unsere […]

  8. […] wie letztjährig „Merriweather Post Pavilion“ dürfte auch das verblüffend Beatles-eske „Halcyon Digest“ der Schlüssel für diejenigen […]

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