AUFTOUREN 2018 – Das Jahr in Tönen

Ein Jahr auf fünfzig Werke zusammenzustampfen, das ist auch bei aller Playlist-Atomisierung vieler Musikhörender nicht weniger unmöglich geworden. Dennoch gab es wie immer 2018 Alben, die bei einer Mehrheit von uns besonders viel Anklang fanden.

Ob Pop oder Experiment, Eskapismus oder knallharte Gegenwartskonfrontation, die Spannbreite ist nicht nur in Sachen Sound und Stil einmal mehr gegeben. Wer es unbedingt noch bunter und obskurer braucht, muss sich bis zu unseren individuelleren Listen geduldigen, heute gibt es die lange erwarteten Top 10 unserer Konsensliste.


20

International Music

Die Besten Jahre

[Staatsakt]

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Mit etwas Fantasie kann man auch International Music zur großen Post-Punk-Welle zählen, die in diesem Jahr einen erneuten Höhepunkt erreichte – und doch machen die Essener einiges anders. Es ist nicht zuletzt die verführerisch wirkend niedrige Schlagzahl, die „Die Besten Jahre“ so sehr prägt. Lässig, unaufgeregt und verschleppend schleichen die Songs aber dennoch zielstrebig zum Ziel. Umso erstaunlicher und teilweise bizarr wirkt es dann, diese demaskierende Mechanik eine geschlagene Stunde lang beibehalten zu können. Darin besteht freilich die Faszination des Album, das gleichsam beiläufig immer wieder neue falsche Fährten legt. Man verliert sich denkbar gerne in diesem kurz angedeuteten skurrilen Genremix zwischen Country und Noise-Rock. (Felix Lammert-Siepmann)


19

Earl Sweatshirt

Some Rap Songs

[Columbia]

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Wäre Earl Sweatshirt ein Superheld, seine Superkraft bestünde darin, nicht da zu sein. Berühmt wurde er in Abwesenheit, dennoch gehörten sein Song „EARL“ und der „Free Earl!“-Schlachtruf zu den Highlights der tumultartigen frühen Odd-Future-Konzerte. Irgendwann war er zurück aus Samoa (seine Mutter hatte ihn dort auf ein Internat für gefährdete Jugendliche geschickt), ließ aber mit seinem abweisenden Major-Debüt „Doris“ und dem introvertierten Nachfolger „I Don’t Like Shit, I Don’t Go Outside“ alle wissen, dass er lieber wieder seine Ruhe hätte. Die 15 Songminiaturen auf seinem dritten Album „Some Rap Songs“ lassen nun erahnen, was in dem 24-jährigen brodelt, wenn er mal wieder nicht raus geht. In assoziativen, Freestyle-artigen Gedankengängen spricht Thebe Neruda Kgositsile über seine Depressionen oder das komplizierte Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater, die wackeligen Glitch-Jazz-Instrumentals spiegeln eher die Verunsicherung des Rappers, statt ihm Struktur und Halt zu geben. „Some Rap Songs“ gewährt voyeuristische Einblicke ins Seelenleben eines jungen Mannes, der niemandes Superheld sein will: „You went and gave me a cape, but that never gave me no hope.“ (Daniel Welsch)


18

Christine And The Queens

Chris

[Because Music]

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It’s safe to say: Ein Alter Ego hat noch niemandem geschadet – und dementsprechend gut funktoniert die Neupositionierung der französischen Singer-Songwriterin Héloïse Letissier als androgyne*r Chris. Beweisen musste sie nach dem Erfolg des 2016er-Debüts „Chaleur Humaine“ nichts mehr und vielleicht wirkt „Chris“ deshalb trotz der thematischen Tiefe so unbeschwert. In den jeweils zwei Versionen der Songs – eine französische und eine in Letissiers eigenem, weitestgehend kryptischen Frenglisch-Mischmasch gesungen – verbirgt Letissier unter Disco-Indie-Pop in meist aalglatter Produktion eine große Bandbreite an Identitätsdiskursen: Es geht um Körper, Cisnormativität, Empowerment, Heteropatriarchie, sexuelle Fluidität und das große Dazwischen. Dadurch geht „Chris“ direkt ins Ohr, bleibt im Kopf und macht dabei die Hintertür für die Dekonstruktion von Normen nicht nur weit auf, sondern nimmt sie direkt aus den Angeln. (Benedict Weskott)


17

Blood Orange

Negro Swan

[Domino]

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Ähnlich wie auf seinem großartigen „Freetown Sound“ setzt Devonté Hynes auch auf „Negro Swan“ wieder auf kulturell-politische Themen, die sich vor allem mit Black Culture, Queerness und Feminismus beschäftigen. Anders als auf dem Vorgängeralbum regiert hier allerdings das Prinzip Hoffnung. Auch musikalisch äußert sich das in einer gewissen Diskretion, die sich vom gezielten Kitsch von „Freetown Sound“ absetzt. Trotzdem ist auch „Negro Swan“ wieder voll von Referenzen, Genreüberschreitungen und Ideen und es ist vor allem Frank Oceans „Blond(e)“, das immer wieder als Einflussgeber durchscheint. Das mag alles zuerst überwältigen, fügt sich schlussendlich aber zu einem farbenreichen Mosaik zusammen, das sich genau in die Schnittstelle zwischen Eingängigkeit und Komplexität setzt. (Pierre Rosinsky)


16

Pusha-T

DAYTONA

[G.O.O.D. Music]

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Die besten Rapwerke der letzten Jahre verhandelten große gesellschaftliche Themen oder private Dramen. Auf seinem dritten Soloalbum rappt Pusha-T abwechselnd darüber, dass er erstens früher mit Drogen viel Geld verdient hat, dass er sich zweitens mit dem so erwirtschafteten Geld allerlei Luxus leisten kann (der Albumtitel verweist auf ein Rolex-Modell) und dass der 41-jährige drittens sehr sehr gut darin ist, über Drogen zu rappen. Dass es dem ehemaligen Clipse-Mitglied auch 16 Jahre nach „Lord Willin‘“ noch gelingt, aus diesem überschaubaren Stoff unterhaltsame Zeilen zu generieren, spricht für seinen lyrischen Einfallsreichtum. Dass „DAYTONA“ das beste Soloalbum seiner Karriere ist, verdankt er aber vor allem seinem Produzenten. Kanye West hatte 2018 nur wenige gute Ideen (das beweist seine wahnwitzige Gaststrophe auf „DAYTONA“), die Auswahl der Samples von „Twelve O’Clock Satanial“ im ersten bis zu „24 Carat Black“ im letzten Song gehört jedoch zu seinen besten. Ebenso wie die Entscheidung, das Album auf sieben Songs und EP-Länge zu verdichten. (Daniel Welsch)


15

The 1975

A Brief Inquiry Into Online Relationships

[Polydor]

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Ob Fan oder Verächter, wenn The 1975 ein neues Großwerk ankündigen, sind Bedenken angesagt. Keine dermaßen erfolgreiche Rockband wagt so viel und forciert ihre Ambitionen zugleich so unverhohlen, dass sie unbeholfen übers Ziel hinauszuschießen droht. „A Brief Inquiry Into Online Relationships“ versucht eben das zu sein, was der Titel ankündigt und übernimmt sich dabei auch mal, erreicht aber so oft die avisiert grandiosen Höhen, dass man sich nur allzu gerne das Fremdschämen verkneift. Die Band, die im Kern immer noch halb Emo (siehe „I Always Wanna Die“), halb Notwist-Electro (siehe „Petrichor“) ist, hat Glam, Funk, Trap, Saxophon und einen Strokes-Song mit in ihr Repertoire aufgenommen und den ambient weichen Texturen ihrer Sounds und Stimme adaptiert. So wird das Album zu einer Art Wundertüte, in der ein Songstil in der Regel völlig anders ist als der darauf folgende, Diphtyche und Spoken-Word-Segmente und Titel mit parenthetischen Nachschüben großen Pop beinhalten können. Sollte man noch mehr wollen? (Uli Eulenbruch)


14

JPEGMAFIA

Veteran

[Deathbomb Arc]

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Immer ,wenn man das Gefühl hatte, Rap habe nun wirklich nichts mehr zu sagen, der Status Quo sei mit Granit in die Charts gemeißelt und die Big Playa würden ewig den Leichnam mit ewig neuen Aufgüssen des Immergleichen fleddern, steigen glücklicherweise neue Akteure oder Crews aus der gärenden Ursuppe des Untergrunds. Vor einigen Jahren waren es die Odd Future Crew oder Death Grips, nun ist es JPEGMAFIA aus Baltimore. Allein wer um das Gekreische von Ol‘ Dirty Bastard einen Killertrack basteln kann, hat absoluten Respekt verdient. Avantgarde-Rap? Avantgarde-Rap! JPEGMAFIA zeigt beeindruckend, was 2018 mit einer MPC noch alles möglich ist und dass Rap auch noch politisch kann. May the glitch be with you! (Mark-Oliver Schröder)


13

Die Wilde Jagd

Uhrwald Orange

[Bureau B]

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Die Volkssage von der wilden Jagd beschreibt einen europaweit bekannten, lärmenden und klagenden Zug, der zu früh, meist durch einen unnatürlichen Tod Verstorbene durch die Welt der Lebenden, der Beobachter zum Mitziehen verdammt. Die wilde Jagd, von der hier die Rede ist, ist ein Duo aus Berlin, das sich der elektronischen Musik verschrieben hat. Scheinbar paradoxerweise lärmt auf „Uhrwald Orange“ nichts, vielmehr ist alles im Fluss. In der Repetition liegt die Kraft, Ekstase in Kleinigkeiten, weniger ist mehr und für die Tracks mit Gesang geht’s beispielhaft ins Alte Testament und morphin-induzierte Träume („2000 Elefanten“) oder ins dunkle gotisch-märchenhafte Mittelalter („Ginsterblut“). Ein fabelhaftes Gesamtkunstwerk, welches den Hörer zum Mitziehen verdammt. (Mark-Oliver Schröder)


12

Daughters

You Won’t Get What You Want

[Pias / Ipecac]

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In den letzten Jahren gab es viele Comeback-Alben, die eingeschlagen haben, die Wucht und Brutalität von „You Won’t Get What You Want“ dürfte jedochauf Jahre unerreicht sein. Auf der einen Seite eine Mischung aus Noise, Industrial, Mathcore und Post Punk, auf der anderen Seite der perfekte Soundtrack für eine Fahrt durch Dantes Höllenkreise, schafft es das neue Album von Daughters vor allem, Emotionen zu wecken, von denen man lange Zeit gar nicht wusste, dass sie existieren. Hier ist wirklich jeder Song ein Erlebnis und mit einem anderen unangenehmen Gefühl verbunden. Sobald der Angstschweiß nach einem Song wie „Long Road, No Turns“ langsam anfängt zu trocknen, kommen auch schon die schnellen, stakkatoartigen Gitarrenprojektile von „The Flammable Man“ daher. Welche Geräusche und Sounds allein schon die Gitarren auf diesem Album produzieren, ist so ekelhaft und gerade deshalb auch so grandios zugleich. (Pierre Rosinsky)


11

Noname

Room 25

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Fatimah Warner ist selbstbewusst. So weit, so normal im Rap. Doch die Künstlerin aus Chicago ist nicht nur selbstbewusst, sondern auch bescheiden. Das erkennt man bereits daran, dass sie ihr Debütalbum „Room 25“ wie ihr ebenfalls großartiges Mixtape „Telefone“ vor zwei Jahren nach dem „Name-your-price“-Prinzip über ihre Bandcamp-Seite verkauft bzw. –schenkt. Oder daran, dass sie in „Don’t Forget About Me“ behauptet, auf die Hilfe von D’Angelo angewiesen zu sein, obwohl die wunderschöne Neo-Soul-Ballade das Gegenteil beweist. In Kombination mit ihrem zurückhaltenden Spoken-Word-Vortrag und den einlullenden Jazz-, Soul- und Bossa-Nova-Klängen von Phoelix könnte man Nonames Bescheidenheit leicht mit Schüchternheit verwechseln. Das ändert sich, sobald man auf den Inhalt ihrer Zeilen achtet, die voller überraschender Punches stecken: „Fucked your rapper homie, now his ass is making better music/ My pussy teaching ninth-grade English/ My pussy wrote a thesis on colonialism.“ Die elf Songs von „Room 25“ erinnern daran, dass ruhig nicht kraftlos bedeutet. Und dass sich Bescheidenheit und Selbstbewusstsein (auch im Rap) nicht ausschließen. (Daniel Welsch)

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Ein Kommentar zu “AUFTOUREN 2018 – Das Jahr in Tönen”

  1. Sunbather sagt:

    Wie immer sehr schöne Liste mit vielen Perlen und einigen Entdeckungen mit denen man (erneut) beschäftigen kann.

    #1 auf jeden Fall auch eine meiner positivsten Überraschungen des Jahres, hätte nicht erwartet wie gut mir das Album gefällt und das es immer wieder seinen Weg in die Rotation gefunden hat.

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