AUFTOUREN 2018 – Das Jahr in Tönen

Ein Jahr auf fünfzig Werke zusammenzustampfen, das ist auch bei aller Playlist-Atomisierung vieler Musikhörender nicht weniger unmöglich geworden. Dennoch gab es wie immer 2018 Alben, die bei einer Mehrheit von uns besonders viel Anklang fanden.

Ob Pop oder Experiment, Eskapismus oder knallharte Gegenwartskonfrontation, die Spannbreite ist nicht nur in Sachen Sound und Stil einmal mehr gegeben. Wer es unbedingt noch bunter und obskurer braucht, muss sich bis zu unseren individuelleren Listen geduldigen, heute gibt es die lange erwarteten Top 10 unserer Konsensliste.


50

Snail Mail

Lush

[Matador / Beggars]

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Im ersten Song ihres Debütalbums scheint sich Lindsey Jordan jeder Änderung verweigern zu wollen, jugendlich naiv an einer Beziehung ohne Zukunft festzuhalten, „I know myself and I’ll never love anyone else“ bekundend. Im Gegenteil aber zeigt sie sich im Folgenden geradezu verfrüht altersweise, so dass der Titel „Pristine“ zugleich wie ein Abschied wirkt als auch bezeichnend für Jordans geradezu makelloses Gespür für Melodien. Unaufdringlich, doch schnell unter die Haut gehend hält „Lush“ davon reichlich bereit und schlendert Gitarre voran einer goldenen Zukunft entgegen. (Uli Eulenbruch)


49

Ought

Room Inside The World

[Merge]

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Auf „Room Inside The World“ entledigen sich Ought größtenteils der Wildheit vergangener Platten und erschaffen ein Werk, das zart erscheint, sich der affektierten Theatralik aber auch nicht scheut. Beispielhaft dafür ist „Desire“, welches das Pathos ganz stark anrührt und mit viel Melodramatik und Gospelchor daherkommt – aber auch mit großem Eigenbewusstsein der Band vorgetragen wird. Vor allem die Texte von Sänger Tim Darcy zeigen das neue Selbstbewusstsein der Band, die sich der Wirkkraft ihrer Songs vollends bewusst ist. Ought sind auf „Room Inside The World“ einige Experimente und Risiken eingegangen – und dieser Mut wird gerne belohnt. (Pierre Rosinsky)


48

Jon Hopkins

Singularity

[Domino]

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Jon Hopkins‘ viertes Album ist ein Trip zwischen Progressive Techno und Ambient – in die Weite, ins Ätherische, Spirituelle, Kosmische, Unermessliche, Sakrale. Klingt pathetisch und ist es auch, wenn Tracks wie „C O S M“, „Recovery“, „Echo Dissolve“ oder „Feel First Life“ auf ihre jeweils eigene Art und Weise mit minimalem Aufheben maximale Atmosphäre schaffen. Kontrastiert wird dieser Teil der Platte durch die Synthesizerlawinen auf der anderen Seite: „Everything Connected“ ist ein 10-minütiges, Musik gewordenes Stroboskoplicht; „Emerald Rush“ zieht mit monumentalen Sythesizern und ephemerer Stimme in sich hinein; „Neon Pattern Drum“ progressiert unnachgiebig durch wüste, außerirdische Landschaften. Falls es jetzt noch nicht deutlich wurde: „Singularity“ ist ein überwältigendes Erlebnis für alle Sinne. (Benedict Weskott)


47

Confidence Man

Confident Music For Confident People

[Pias / Heavenly]

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Wer wohlerzogene, stimmungsvoll ernste Dancemusik sucht, die man den Schwiegereltern vorstellen kann, ist bei Confidence Man an der falschen Adresse. Das Quartett aus Brisbane strotzt nur so vor smarten, augenzwinkernd hedonistischen Electro-Pop-Groovekapriolen, die von der Disco-Kuhglocke über Madchester-Psychedelik bis zum Yello-mäßigen „Chck-Chckah“-Flüstern alles an die Wand werfen, was Vergnügen bereitet. Nicht wahllos jedoch, denn es ist gerade die Wandelbarkeit, die an „Confident Music For Confident People“ so imponiert: Über verlässlich sprunglustigen Bassläufen dockt „Try Your Luck“ bei LCD Soundsystem an, wird „C.O.O.L. Party“ mit Breakbeat-Einwürfen zum sarkastischen Monolog, „All The Way“ zur jubilanten Space-Disco und führt „Better Sit Down Boy“ über Gitarrenschlenker und genussvolle Spannungssteigerungen zur unaufhaltsamen Beat-Explosion. Die, weil man Confidence Man eben vertrauen kann, mit einem „Boom“-Ausruf quittiert wird. (Uli Eulenbruch)


46

Armand Hammer

Paraffin

[Backwoodz Studioz]

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Wer „Paraffin“ zunächst über einen Bandcamp-Embed hört, mag mit „Dettol“ einen falschen Eindruck vom neuesten Streich des New Yorker Rapduos bekommen. Gleichzeitig bereiten die Retro-Streicher-Samples aber auch einen guten Einstieg in die seltsamen Tiefen, die folgen: „Paraffin“ entfaltet sich als eine Irrfahrt durch gar nicht mehr so vinylig warmes Knistern und Rauschen, aufdringlich monotone Melodien, be- und entschleunigte Stimmloopereien oder verzogene bis oppressiv gedoppelte Beats mit einer psychedelischen Intensität, die zugleich umhüllt und aus dem Stand wirft. Umso gefestigter wirken dadurch die Flows von ELUCID und Billy Woods, ein passionierter Vortrag mit einem Blick, der von all den Nebelschwaden ungetrübt ist. (Uli Eulenbruch)


45

Suede

The Blue Hour

[Warner]

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Erste Liebe, aber sicherlich nicht der letzte Tanz. Suede machen auf „The Blue Hour“ da weiter, wo sie ihren zweiten Frühling begonnen haben. Brett Andersons Stimme somnambuliert an der Tag-und-Nacht-Gleiche entlang, neu hingegen ist der durch Field Recordings initiierte Gestaltungsbogen. Dramatisch, aber immer auch ausreichend Ruhe einholend wird „The Blue Hour“ mit jedem Durchgang dichter, aber eben auch greifbarer. Dass dabei nach wie vor Hymnen wie das herausragende „Life Is Golden“ entstehen, ist sowohl bemerkenswert als auch erwartbar zugleich. (Carl Ackfeld)


44

The Internet

Hive Mind

[Columbia]

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Wenn als erster Suchergebnis für einen omnipräsenten Begriff wie „The Internet“ die Homepage einer Band erscheint, ist klar: Die haben es geschafft. Schon mit „Ego Death“ hatte die Gruppe um Syd und Matt Martians 2015 herausragenden (und dafür Grammy-nominierten) R’n’B-Funk zutage gelegt, doch markiert ihr viertes Album nochmal einen deutlichen Fortschritt. Mit Vibes ohne Ende schmiegen sich „Stay The Night“ oder „Come Over“ intim und explizit queer an und auch anderswo verströmt der Sound gleichsam warmer Stimmen und Saitenläufe eine einladend kommunale, utopisch hoffnungsvolle Wirkung, die zehrende Seelennahrung liefert. (Uli Eulenbruch)


43

Shame

Songs Of Praise

[Dead Oceans ]

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Shame haben es sich in der ungemütlichen Ecke bei IDLES und anderen britischen Höllenhunden ganz schön bequem gemacht. Ihr von Punk und resignativem Pop getragener Abgesang auf das einstmals so stolze Königreich hat viel Wegbegleiter gefunden, die Melodieseligkeit der Jungs aus Brixton blieb hingegen nebst der kratzbürstigen Stimme von Sänger Charlie Steen ein nicht zu unterschätzendes Trademark. Ob hier auch der Brexit seine Spuren hinterlassen hat? Mit Sicherheit, doch überdauern die dystopischen Metaphern von „Dust On Trial“ genauso wie das stürmische „Concrete“ jedes Misstrauensvotum. (Carl Ackfeld)


42

DJ Healer

Nothing 2 Loose

[All Possible Worlds]

Es ist der Stoff, aus dem Legenden (und absurd hohe Discogs-Preise) sind: Mit nur vager Vorankündigung veröffentlichte der unter anderem als Traumprinz bekannte Produzent zwei herausragende Mammutwerke unter zwei verschiedenenen Künstlernamen – ausschließlich auf Vinyl. Als Komplement zu Prime Minister Of Dooms klarer liniertem „Mudshadow Propaganda“ ist „Nothing 2 Loose“ zunächst weniger leicht greifbar, mit sanft texturiertem, ausgedehntem Ambient-Techno, der jedoch schon beim ersten Hören eine unglaublich emotionale Pracht entfaltet und seinem Nom de Plume alle Ehre macht. (Uli Eulenbruch)

41

Yves Tumor

Safe In The Hands Of Love

[Warp]

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Mit dem Albumtitel „Safe In The Hands Of Love“ führt Yves Tumor ein wenig in die Irre. Liebesbeziehungen werden bestenfalls ambivalent besungen, Zeilen wie „Some call it pain/ Some call it torture/ Maybe I enjoy it” („Licking An Orchid“) demonstrieren die innere Zerrissenheit, mit der sich Tumor auf seinem Drittling beschäftigt. Die stetigen Noise-Ausbrüche täuschen nicht darüber hinweg, dass „Safe In The Hands Of Love“ auch ganz viel mit Pop experimentiert. Wenn dann noch Electronic und R’n’B in den Mix geworfen werden, mag es schwierig fallen, ein stringentes Konzept zu erkennen; die angesprochene Zerrissenheit zeigt sich hier aber auch im Songwriting und Tumors Liebeskonzept wirkt gerade deshalb umso ehrlicher. (Pierre Rosinsky)

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Ein Kommentar zu “AUFTOUREN 2018 – Das Jahr in Tönen”

  1. Sunbather sagt:

    Wie immer sehr schöne Liste mit vielen Perlen und einigen Entdeckungen mit denen man (erneut) beschäftigen kann.

    #1 auf jeden Fall auch eine meiner positivsten Überraschungen des Jahres, hätte nicht erwartet wie gut mir das Album gefällt und das es immer wieder seinen Weg in die Rotation gefunden hat.

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